Autor: Ruth Näf Bernhard

1. Dezember

O dass mein Leben deine Gebote
mit ganzem Ernst hielte.
Psalm 119,5

Haben Sie heute schon etwas vor? Nein? Dann würde ich
Ihnen empfehlen, den Psalm 119 in seiner ganzen Länge zu
lesen. Dieser Psalm scheint nämlich nie zu Ende zu gehen. Er
ist der längste von allen mit seinen 176 Versen.
Sind Sie heute schon völlig ausgebucht? Ja? Dann würde ich
Ihnen empfehlen, den Psalm 119 in seiner ganzen Länge zu
lesen. Heisst es doch im allerletzten Vers: «Ich irre umher
wie ein verlorenes Schaf.»
Mit Lesen meine ich Beten. Das Reden mit Gott geht nie
zu Ende. Mein Glaube sucht Sprache im Schweigen. Meine
Hoffnung sucht Raum im Hören. Mein Leben sucht Sinn.
Sinn im Wort. Im Wort, das mich hält, damit ich es halte.
Hundertsechsundsiebzig Verse. Was würde sich wohl in
meinem Leben verändern, wenn ich jeden Morgen diesen
Psalm beten würde. Wenn ich mich jeden Tag laut sagen
hören könnte, dass Gottes Wort meines Fusses Leuchte ist
und ein Licht auf meinem Weg. Wenn ich immer wieder
bei Vers 37 kurz ins Stocken käme: «Halte meine Augen
davon ab, nach Nichtigem zu schauen, schenke mir Leben
auf deinen Wegen.»
Psalm 119 jeden Morgen. Einen Versuch ist es mir wert.

Von: Ruth Näf Bernhard

2. Oktober

Herr, gib mir dieses Wasser, damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen muss, um zu schöpfen! Johannes 4,15

Ich könnte stundenlang auf dem Brunnenrand sitzen. Ihm zuhören und ihn um Wasser bitten. Um jenes Wasser aus der Tiefe. Ich würde ihm von meiner Sehnsucht nach Leben erzählen. Wie meine Seele voll Verlangen wie der Hirsch nach frischer Quelle schreit. Stundenlang könnte ich so sitzen. Meine ich. Und ärgere mich schon wieder über die kleinste Kleinigkeit. Ich werde ungeduldig auch mit mir. Es ist zum Davonlaufen. Damit ich dennoch bei mir bleiben kann, lese ich manchmal diesen Text von Franz von Sales, der von 1567 bis 1622 gelebt hat:


Wenn dein Herz wandert, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart deines Herrn. Und wenn du in deinem Leben nichts anderes getan hast, ausser dein Herz zurückzubringen, obwohl es dir jedes Mal wieder fortlief, dann hast du dein Leben wohl erfüllt.


Manchmal gelingt es. Ich sitze wieder auf dem Brunnenrand. Und ich höre ihm zu. Und ich bitte ihn um Wasser. Um dieses lebendige Wasser aus der Tiefe. Und manchmal sitzt einer an meiner Seite. Sein Name ist Franz. Er lächelt mir zu und nimmt meine Hand. So sitzen wir schweigend. Und hören die Quelle.

Von: Ruth Näf Bernhard

1. Oktober

Ich will dir danken, HERR, unter den Völkern
und deinem Namen lobsingen.
Psalm 18,50

Gott, der du dich in meinem Leben bewährst,
Gott, der du mich in meinem Leben bewahrst,
ich danke dir für mein Leben,
ich danke dir für fünfundsechzig volle Jahre.
Ich will dir danken und deinem Namen lobsingen.
Aus Enge wurde Weite.
Aus Abgrund wurde Übergang.
Aus Ende wurde Neubeginn.
Aus Ängsten wurde Neugier.
Ich will dir danken und deinem Namen lobsingen.
Als wir uns nichts mehr zu sagen hatten,
da hast du mir neue Worte geschenkt.
Als ich mich nicht mehr erinnern konnte,
standen Brot und Wein auf meinem Tisch.
Als ich nicht mehr aufstehen wollte,
sass die Hoffnung an meinem Bett.
Als ich Mauern um mich baute,
hat ein Schmetterling sie zum Fallen gebracht.
Ich will dir danken und deinem Namen lobsingen.
Gott, der du dich in meinem Leben bewährst,
Gott, der du mich in meinem Leben bewahrst,
ich danke dir für mein Leben.

Von: Ruth Näf-Bernhard

2. August

Die Jünger weckten Jesus auf und sprachen zu ihm:
Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?
Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach
zum Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte
sich und es ward eine grosse Stille.
Markus 4,38–39

wirf
alles
was schwer ist
über bord
wenn es stürmt
in die tiefen
des wassers
damit
deine liebe
nicht untergeht
hab keine angst
vertrau und
schau
gott lächelt
im schlaf
ganz hinten
im schiff
© Ruth Näf Bernhard, grund genug, alataverlag 2016

Von: Ruth Näf Bernhard

1. August

Jesus predigte das Evangelium Gottes und sprach:
Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist
nahe herbeigekommen. Tut Busse und glaubt an
das Evangelium!
Markus 1,14–15

Tut Busse und glaubt an das Evangelium. Tut Busse. Das
heisst: Kehrt um. Kehrt um und glaubt. Kehre um und
glaube. Wage den Schritt. Den ersten Schritt.
Wer umkehren will, muss umdenken können. Und als Folge
davon und darüber hinaus: auch anders tun. Und das so
anders, dass es sichtbar wird.
Sie alle tragen Schrittzähler am Handgelenk. Damit man es
sieht. Dass sie es tun. Das, wovon sie denken, es tue ihnen
gut. Und tatsächlich: Wir sehen es. Dass sie alle zu denen
gehören, die umdenken können. Und als Folge davon mehr
Schritte machen. Mindestens 10 000 täglich.
So anders tun, dass es sichtbar wird. Wäre das doch schön.
Wenn das Gut-Tun auch anderen zugutekäme. Schritte auf
den andern zu. Kleine Schritte, die sich nicht zählen lassen.
Tut Busse. Kehrt um und glaubt. Vor allem: Glaubt. Vielleicht
ist der erste Schritt zur Umkehr, mir einzugestehen, dass ich
es nicht kann. Weil ich mit mir zu beschäftigt bin. Damit ich
es kann, umkehren und glauben, brauche ich Hilfe. Die Hilfe
von Gott. Schritt für Schritt. Mindestens 10 000 Mal.

Von: Ruth Näf Bernhard

2. Juni

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen
mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause
des HERRN immerdar.
Psalm 23,6

Gott ist immer da.
Gott kann man alles sagen.
Gott gibt mir alles.
Gott begleitet mich durch mein Leben,
auch wenn es nicht immer einfach ist.
Er ist immer für mich da.
Als ich auf die Welt kam, war er da.
Als ich die Salben auf dem Wickeltisch verschmierte,
war er da.
Als ich Velofahren lernte, war er da.
Als ich das erste Mal zur Schule ging, war er da.
Als ich in die 4. Klasse kam, war er da.
Als ich in die 7. Klasse kam, war er da.
Wenn ich in das Berufsleben eintreten werde,
wird er da sein.
Und wenn ich schwierige Situationen erleben werde,
wird er da sein.
Auch wenn ich sterben werde!
Amen.


Das Gebet hat eine meiner Konfirmandinnen zu Psalm 23,6
geschrieben und im Konfirmationsgottesdienst vorgetragen.

Von: Ruth Näf Bernhard

1. Juni

Ich habe mein Herz vor dem HERRN ausgeschüttet. 1. Samuel 1,15

Diese Worte sagt Hanna zu Eli. Er hält sie nämlich für betrunken.
Denn er sieht nur, wie sich ihre Lippen bewegen, ihre
Stimme aber hört er nicht. Er fordert sie auf, nüchtern zu
werden. Da erklärt ihm Hanna: «Ich bin eine verzweifelte
Frau. Und ich habe weder Wein noch Bier getrunken, ich
habe mein Herz vor dem HERRN ausgeschüttet.»
Hanna, die sich so sehr ein Kind wünscht. Oder irgendeine
andere Frau mit demselben Wunsch. Sie schüttet uns ihr
Herz aus. Ein ganzes Meer von Betrübnis liegt da. Wie schnell
kommt eine Antwort über unsere Lippen. Wie schnell haben
wir einen Lappen zur Hand, um die Wasserlache wegzuputzen.
Weil wir die Verzweiflung nicht verstehen. Nicht verstehen
wollen. Nicht aushalten können.
Und dann sagt diese oder jene andere Frau zu mir, dreissig
Jahre später, wie schwierig es sei, nie Grossmutter zu werden.
An die Kinderlosigkeit habe sie sich irgendwann gewöhnt.
Doch die Enkellosigkeit sei ein neuer Schmerz. Ich höre, wie
die neue Verzweiflung sich mit der alten vermischt. Ein ganzes
Meer von Betrübnis liegt da. Ich könnte ihr jetzt doch
von Hanna erzählen. Wie deren Klage sich in Lob verwandelt.
Dass Gott schon weiss, was richtig ist. Nein. Ich lasse den
Lappen fallen. Und glaube der Frau. Es braucht nicht immer
eine Antwort. Weil es nicht immer eine gibt.

Von: Ruth Näf Bernhard

2. April

Die Jünger nötigten Jesus und sprachen: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Lukas 24,29

Weisst du, ich überlege mir gerade, wie oft ich wohl diesen Kanon schon gesungen habe. Zu welchen Zeiten. Und an welchen Orten. «Herr, bleibe bei uns!» Damals, als junges Mädchen oder fast schon als Frau, in einer Bibelgruppe, inbrünstig und vom eigenen Glauben begeistert, unterstützt durch Gitarrenklänge eines Leiters, in den wir ein bisschen verliebt waren. Und dann im Heim, wenn wir als Team und mit den Kindern draussen unter der grossen Linde in dieses Abendlied einstimmten und fast nicht mehr aufhören konnten damit, mit Kindern, die eigentlich nicht singen wollten und sich dennoch vom Singen tragen liessen. Und dann im Gottesdienst in der vollen Kirche, wie von einem heiligen Schauer erfasst, berührt durch die Kraft der Worte, durch die Kraft des Gesangs, der eigentlich schon kein Bitten mehr ist, sondern Gewissheit, dass du bleibst. Und dann in kleiner Runde am Grab, wo uns die Stimmen zu versagen drohten, weil so viel Hoffnung gestorben war, wir aber das Singen nicht lassen konnten, weil was im Leben geholfen hatte, vielleicht nun auch beim Abschied hilft. Und dann so oft auch allein gebetet, nicht gesungen, nur gebetet, ich für mich.

Weisst du, jetzt überlege ich mir gerade, wie oft ich dir dafür gedankt habe, dass du über Nacht geblieben bist.

Von: Ruth Näf Bernhard

1. April

Lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten! Jesaja 1,17

Das wollen wir lernen. Gutes zu tun. Wir geben uns Mühe. Tag für Tag. Und manchmal gelingt es. Dass aus der Absicht, Gutes zu tun, Gutes entsteht. Für alle, die beteiligt sind.

Das wollen wir lernen. Das Recht zu suchen und den Unterdrückten zu helfen. Wir geben uns Mühe. Tag für Tag. Und manchmal gelingt es. Dass wir verstehen, was Recht sein könnte. Und wir uns auf die Seite der Schwächeren stellen.

Im Wortlaut der Zürcher Bibel gibt es innerhalb dieses Verses noch einen Einschub: «Weist den, der unterdrückt, in seine Schranken!» Dieser Satz hat es in sich. Und hat Konsequenzen. Gutes tun und den Schwächeren helfen, ist eine ehrenhafte Sache. Wir können mit Nächstenliebe punkten. Doch den Stärkeren in seine Schranken weisen, damit es weniger Schwächere gibt, das braucht Mut. Man macht sich damit nicht beliebt.

Das möchte ich lernen. Auf die Einschübe zu hören und mich zu wehren. Mit ein bisschen mehr Biss durch den Tag zu gehen. Und mit etwas weniger Poesie. Beliebtheit ist von kurzer Dauer. Ich möchte in Liebe unterscheiden lernen. Was wann und wo gefragt sein könnte.

Von: Ruth Näf Bernhard

2. Februar

Als Jesus das Volk sah, ging er auf einen Berg. Und er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie. Matthäus 5,1–2

Er geht auf den Berg und lehrt uns. Und manchmal hören wir zu. Salz der Erde. Licht der Welt. Manchmal verstehen wir deutlich und klar, dass es mit uns zu tun haben könnte. Dass wir uns nicht davonstehlen dürfen. Dass Hören und Handeln zusammenhängen. Es jedenfalls sollten.
Wir sehen beim Hören Boote vor uns. Voller Menschen auf der Flucht. Und schauen weg. Damit die Bilder uns nicht verschlingen. Von Menschen, die verschlungen werden.
Er geht auf den Berg und lehrt uns. Zweitausend Jahre später beendet ein Bundesrat seine Neujahrsrede so: «In einer Heimat zu leben, die es uns ermöglicht, an die Ziele der Bergpredigt zu glauben, ist Hoffnung und Verpflichtung zugleich. Dass wir diesen Traum bisher nicht erreichten, ist daher nicht unsere Resignation, sondern unser Ansporn.»
(Moritz Leuenberger, Träume und Traktanden, Limmat Verlag 2000)
Er geht auf den Berg und lehrt uns. Bis heute. Das soll unser Ansporn sein. Auch dann, wenn Zahlen einen Rechtsrutsch belegen. Dann erst recht. Nur jetzt keinesfalls die Hoffnung verlieren. Hören wir zu. Um handeln zu können.

Von: Ruth Näf Bernhard