Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit
wie ein nie versiegender Bach. Amos 5,24
Recht und Gerechtigkeit sollen doch für alle Zeiten in Stein
gemeisselt sein, damit man im Streitfall festen Boden unter
den Füssen hat und weiss, was gilt. Ich gebe zu, auch ich hege
dieses Vorurteil immer wieder.
Der Prophet Amos erkennt die grossen Ungerechtigkeiten
seiner Zeit ohne jegliche juristische Zusatzausbildung und
wählt zur Besserung eine eigenwillige Metapher. Ich verlasse
also die Komfortzone meiner Vorurteile und tauche in sein
flüssiges Sprachbild ein. Für den erprobten Schafzüchter sind
Quellen und Bäche überlebenswichtig. Harten, staubigen
Grund meidet er mit seiner Herde bestimmt weiträumig,
weil es dort nichts Fressbares gibt. Amos fasst also in einem
Vers zusammen, was sonst nur die Lektüre aller biblischen
Schriften, aufgezeichnet über mehr als tausend Jahre, offenbart:
Damit die Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit
geniessbar bleiben, damit sie wirklich Lebensmittel und
nahrhaftes Futter sind für Mensch und Tier, müssen sie im
Wandel der Zeiten immer wieder frisch diskutiert, bestritten,
geprüft und erneuert werden.
Unsere irdischen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit
sind nicht für die Ewigkeit gemacht, sondern eine Herausforderung
für jede neue Generation. Glauben Sie das nicht?
Dann stellen Sie sich vor, wie Amos gestaunt hätte, wenn Sie
ihm erklärt hätten, was eine «Rentenversicherung» ist.
Von: Dörte Gebhard