Ihr habt schon geschmeckt, dass der Herr freundlich ist. 1. Petrus 2,3

Ihr habt schon geschmeckt! Das ist ein schönes, sinnliches
Bild, und wenn es sich auf die Freundlichkeit Gottes bezieht,
lässt man es sich auf der Zunge zergehen! Mir fällt dabei der
schöne, wahrscheinlich bekannteste Text von Marcel Proust
aus seinem Buch «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit»
ein. Er beschreibt dort auf zwei Seiten, wie der Verzehr einer
Madeleine (ein in Frankreich verbreitetes Teegebäck), die er
in den Tee tunkt, plötzlich die Erinnerung an ein tiefes Erlebnis
in seiner Kindheit wachruft, in dem Proust den wahren
Sinn des Lebens zu erhaschen meint. Auch damals tauchte
er, als er krank war, eine Madeleine in eine Tasse Tee und
schmeckte sie – und das erfüllte ihn mit dem Empfinden,
eine in ihm verborgene Wahrheit zu schmecken, ohne sie
fassen zu können. Die Sinne, hier der Geschmackssinn, wissen
oft mehr als unser Geist!
Und so ist es mit der Freundlichkeit Gottes. Wir schmecken
sie – wie könnten wir sie mit dem Verstand fassen? Mit
Hilfe der Theologie? Mit unseren ethischen Überzeugungen?
Sie helfen uns, uns dieser Wahrheit anzunähern. Aber das
Geheimnis der Freundlichkeit Gottes, seiner immerwährenden
Gegenwart in uns – das ist eine innere Erfahrung, die uns
immer, auch entgegen allem Augenschein, hoffen lässt und
die wir mit dem Verstand nicht fassen, die wir aber fühlen,
vielleicht schmecken können. Gott sei Dank!

Von: Elisabeth Raiser