Wenn jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten.  Johannes 16,13

Im griechischen Urtext heisst es: «Wenn jener kommt, das Pneuma der Wahrheit.» «Jener» ist merkwürdigerweise maskulin, «Pneuma» ein Neutrum. «Jener» bezieht sich also noch auf etwas anderes als auf das Pneuma. Und tatsächlich gibt es im Johannesevangelium die geheimnisvolle Gestalt des Parakleten, des Beistands. Jesus, der Abschied nimmt von seinen Jüngern, verheisst ihnen, dass der Paraklet kommen wird. Im heutigen Lehrtext identifiziert er das Pneuma mit diesem Parakleten. Dadurch gewinnt das Pneuma, dieses Fluidum, das alles inspiriert und belebt, eine personale Seite: Es wird ansprechbar, kommt uns nahe als DU. – Gemäss einer alternativen Lesart führt der Geist nicht in «aller, sondern in «alle» Wahrheit. Die erste Version betont den Lebensraum, den die verlässlich anwesende göttliche Geistkraft (so kann «Geist der Wahrheit» paraphrasiert werden) eröffnet. Die zweite Version betont die Offenheit der Zukunft: Der Weg führt in noch unbekannte Dimensionen der Wahrheit hinein. Jesus sagt, er werde einen «anderen Parakleten» (14,16) senden. Die Andersheit ist unheimlich (das griechische Wort für «Wahrheit» bedeutet «Un-Verborgenheit») – und ebenso «verheissungsvoll». «Verheissungsvoll», schreibt der deutsche Theologe F. W. Marquardt (1928–2002), «ist nur das Andere des anderen Beistands: heraus aus dem Vertrauten ins Trauen.»

Von Andreas Fischer