Im Herbst 2023 waren wir in der Bretagne. In der Umgebung von Morlaix, östlich von Brest, gibt es ganz besondere umfriedete Pfarrbezirke (enclos paroissiaux). Sie bestehen aus Triumphtoren, Beinhäusern, Calvaires (mehrstöckigen Kreuzen) und reich ausgestatteten Kirchen, alles umgeben von einer Mauer. Diese Bauwerke stammen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Damals sah die katholische Kirche ihre bretonischen Schäfchen in Gefahr, weil sich ein Teil den Hugenotten zugewandt hatte. Die Gegenreformation setzte daher auch auf prachtvolle Heiligtümer. Dank der florierenden Textilmanufakturen in der Gegend waren die Mittel dafür vorhanden.
Besonders beeindruckend sind die Calvaires mit Szenen von der Weihnachtsgeschichte bis zur Passionsgeschichte. Zuoberst ist jeweils Christus am Kreuz. Die Geschichten hören also beim Karfreitag auf.
Auch im Innern sind die Kirchen reich ausgestaltet. Die folgenden Bilder sind aber alle von den Calvaires, die im Freien stehen.
Versuchen Sie selbst, die Geschichten zu entziffern.
Wohl dem Volk, das jauchzen kann! HERR, sie werden im Licht deines Antlitzes wandeln.Psalm 89,16
Mir geht es gut. Ich freue mich am bunten Herbst, an Regen, Wind und Sonnenschein und an meinen Enkelkindern. Wie schön wäre doch die Welt, wenn wir uns alle freuen könnten! Doch täglich werden wir geflutet mit Bildern von Gewalt und Hass, von Zerstörung, Terror, Tod. Was ist wahr und was ist ausgeblendet? Es bräuchte einen anderen Fokus und ein anderes Licht, das uns den Weg erhellt in eine friedlichere Welt. Dieses Licht ist ja schon da – ewig. Es ist eine Glaubenssache, dieses ganz besondere Licht. Möge es ins Dunkle scheinen, auf Wege zur Versöhnung leuchten. Möge es doch – weltweit – jene stärken, die oft nicht im Fokus stehen, die mit ihrer Menschlichkeit trotzig auf die Hoffnung setzen. Damit auch unsere Kindeskinder sich noch am Leben freuen können.
Jesus spricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.Matthäus 28,20
Sie waren völlig verstört damals, als sie ihn hingerichtet hatten. Doch dann sahen sie ihn wieder, noch und noch, hörten ihn reden. Er tröstete sie, sagte ihnen, sie sollen sich nicht fürchten, er sei bei ihnen alle Tage – bis an der Welt Ende. Sie erzählten es weiter, setzten darauf all ihre Hoffnung, glaubten ihm. Auch heute noch können wir diesem Versprechen glauben. Wir sollten endlich aufhören, uns immerzu zu fürchten, wir sollen nicht resignieren, sondern weiterhin auf das Gute setzen, das Lebensdienliche, selbst wenn Krieg und Terror allgegenwärtig sind, wenn es scheint, die Menschheit sei am Ende. Das Christentum ist eine Protestbewegung gegen die Resignation – das habe ich vor vielen Jahren aufgeschnappt. Daran halte ich mich.
Seid Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst. Jakobus 1,22
Wenn wir – zum Beispiel – die Bergpredigt hören, ist es die reine Überforderung! Niemand kann das alles umsetzen. Es ist schlicht eine Zumutung. Der Rabbi aus Nazareth allerdings mutet uns genau dies zu.
Nicht weil er uns auf Leistung trimmen will, sondern weil er uns ermutigt, mitzuwirken an einer heileren Welt. Wir sind eben nicht nur Empfängerinnen und Empfänger göttlicher Gnade, sondern – ganz bescheiden und höchst unvollkommen – Beteiligte, Mitwerkelnde an dem, was Glaubende das Reich Gottes nennen. Dieses Reich ist nämlich eine Kooperative: Es braucht uns alle, um zu versuchen, das zu tun, was gut ist. Für uns und für die ganze Welt.
Gott wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Offenbarung 21,3–4
Manchmal sind sie auf Plakaten, die Tränen. Am wirkungsvollsten auf einem Kindergesicht. Denn wir sind darauf programmiert, Tränen abzuwischen, Not zu lindern, insbesondere bei Kindern. Auf den Plakaten aber ist es oft nur eine billige Masche, um an Geld zu kommen.
Am 8. September bebte die Erde in Marokko, Häuser stürzten ein, viele Menschen starben. Ein Zeitungsbild zeigt einige Frauen und Kinder auf Wolldecken, inmitten von Trümmern. Die Frauen sitzen da, mit gesenktem Kopf, apathisch. Ein kleines Mädchen in der Mitte aber blickt fröhlich zu zwei anderen Kindern hin. Ich staune. Es hätte allen Grund zum Weinen. Doch es lächelt. Das Bild scheint nicht gestellt, ist keine Masche. Es ist eine irritierende Momentaufnahme voller Hoffnung in unvorstellbar grosser Not. Diese Kinder wirken so lebendig und so stark. Mag sein, dass sie später ihren Müttern, Vätern die Tränen von den Augen wischen werden.
Des HERRN Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss. Psalm 33,4
Das Wort heisst «ja». Ja zu dir, ja zu mir, ja zu uns allen. Um es wahrzunehmen, braucht es keine App und keine KI. Nur wache Sinne. Es funkelt mich an, wenn ich den Fenchel mit der Brause giesse – unzählige winzige Tröpfchen in den filigranen Blättern funkeln wie Diamanten in der Morgensonne. Es begegnet mir als Liebgottkäferli auf einer Schafgarbe. Ich höre es als «si, si, si» von den Mauerseglern, die hoch oben in Gruppen durch die Lüfte kurven. Sogar im lauten Quaken der Frösche ist es.
Das Ja schützt uns davor, von Widrigkeiten überwältigt zu werden. Es hilft, zu hoffen und weiter an das gute Leben zu glauben, Aufgaben anzupacken. Es hilft, uns selber und andere anzunehmen, mit allen Unzulänglichkeiten und Macken. Es hilft uns, dankbar das Gute zu erkennen und nicht zu verzweifeln angesichts der täglichen Schreckensnachrichten aus allen Ecken unserer fragilen Welt.
Manchmal ist es sehr leise, das Ja, aber es ist da.
Ein Samariter, der auf der Reise war, kam dahin; und als er den Verletzten sah, jammerte es ihn; und er ging hin zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Lukas 10,33–34
Aus meinen Reisenotizen vom 8. April 2023: Auf einer Treppe zur Unterführung am Rondo Waszyngtona in Warschau liegt ein Mann. Er stöhnt, blutet im Gesicht. Ich hoffe, es hilft ihm jemand, der Polnisch kann.
Ich war dem Verletzten keine Nächste. Denn er ist es, der das entscheidet, wie in der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Das habe ich vor Jahren nach einer Predigt kapiert. Es geht nicht um Nächstenliebe von oben herab, herablassend. Sondern von unten her – bestenfalls auf Augenhöhe.
Wie viele gingen wohl an jenem Mann vorbei – wie ich? Ich hoffe fest, dass er Hilfe erhielt, an diesem Karsamstag, an dem die Menschen doch milde gestimmt und empfänglich waren, sich auf Ostern freuten. Viele sahen wir mit Körbchen voller Lebensmittel, die sie bei den Kirchen segnen liessen. Segen zum Weitergeben.
Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen.Epheser 5,19
Dona nobis pacem. Unzählige Male ist das gesungen worden – gerade in den letzten anderthalb Jahren!
Hat es etwas genützt? Offensichtlich nicht! Es reicht ein Blick in die täglichen News: da ist keine friedliche Welt. Konflikte gibt es auch im Kleinen, in der Familie, in der Nachbarschaft.
Ändern wir die Blickrichtung: Wir sollen ja einander mit Singen ermuntern, weiterhin an Frieden zu glauben. Trotz allem. Wir sollen singen, damit wir die Hoffnung nicht aus dem Herzen verlieren. Dona nobis pacem.
Er führet mich auf rechter Strasse um seines Namens willen.Psalm 23,3
Vor einigen Jahren hatte ich in meinen Ämtern allerlei Widrigkeiten auszuhalten. In jener Zeit übertrug ich Psalmen in mein Weltbild, auch Psalm 23.
Ich fühle mich geborgen, mir fehlt nichts. Immer wieder finde ich Orte, an denen ich mich erholen und auftanken kann. So erneuert sich mein Leben ständig. Überraschende und gute Wege entdecke ich, weil ich an die Liebe glaube. Wenn ich in Schwierigkeiten stecke, habe ich keine Angst, denn mein Grundvertrauen lässt mich aufrecht gehen, gibt mir Mut und Zuversicht. Ich erfahre die Fülle des Lebens und muss nicht neidisch und habgierig sein. Dafür bin ich dankbar mit allen, die das genauso erleben, denn innerlich sind wir reich. Davon können wir zehren, so lange wir leben. Und nach uns kommen andere in den Genuss – so lange sie leben.
Hinterher stelle ich dankbar fest, dass dies genau der rechte Weg war, mit dem Schwierigen fertigzuwerden.