Kategorie: Mittelteil

Mittelteil Mai / Juni

«mächtig stolz»

«mächtig stolz» – das ist der Titel einer Textsammlung,  die im Mai erschienen ist. 70 Frauen erinnern sich an die Anfänge und Entwicklungen der feministischen Theologie und der Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz. Eine von diesen Autorinnen ist Ihnen wohlbekannt: Reinhild Traitler. Im Folgenden ein Ausschnitt aus ihrem Text über ihre Jahre als Studienleiterin von Boldern von 1984 bis 2003.

… Das am Fuss des Zürichbergs in der Voltastrasse gelegene Boldernhaus war das Stadthaus des Evangelischen Tagungszentrums Boldern bei Männedorf …

Das Boldernhaus war schon seit längerer Zeit schwerpunktmässig ein «Frauenhaus» gewesen. In der Wohnung im zweiten Stock, in die ich nun einziehen würde, hatten viele Jahre lang zwei Ikonen der Schweizer Frauenbewegung residiert: Marga Bührig und Else Kähler.

… Feminismus – die Vokabel war mir damals zwar bereits geläufig, aber noch etwas blass. Ich hatte jahrelang mit gescheiten Männern zusammengearbeitet, für welche die Frauenfrage ein «Nebenwiderspruch» war. Zudem machte ich im ÖRK immer wieder die Erfahrung, dass Frauen ihre Anliegen in einer anderen Sprache und durch andere Vermittlungen darstellen wollten und deswegen oft nicht gehört oder ernst genommen wurden. Auch war das, was wir feministische Theologie nannten, kein Monolith, sondern eher ein Konglomerat, das die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen unter dem Stichwort «Erfahrung» ebenso einbezog wie kreative Formen des Ausdrucks oder liturgische Experimente wie ein «Abendmahl am Küchentisch». Wir fragten nach, inwieweit der weibliche Körper die soziale Existenz von Frauen geprägt hatte und noch prägte und wie das sichtbar gemacht werden konnte …

… Die viel zu grossen Erwartungen und die Hoffnung, dass daraus dennoch etwas werden könnte, all das stand auf einmal vor mir bei meinem Einzug ins Boldernhaus in diesem August 1984. Als wir im Eiltempo die Wohnung eingerichtet hatten, waren auch schon die Frauen an der Tür, die mir helfen wollten, das Haus nach der Pensionierung von Marga Bührig und Else Kähler neu zu positionieren. Einige von ihnen hatte ich in den Anfangswochen in Zürich bereits kennengelernt. Besonders Pfarrerin Dora Wegmann war in dieser Zeit des Sich-Zurechtfindens eine grosse Hilfe. Bei vielen Tassen Kaffee hörte ich von der langen Tradition von Frauenarbeit im Boldernhaus, die vor allem auf Angebote zur Lebenshilfe fokussiert war.

Bei diesen Gesprächen mit einem langsam grösser werdenden Kreis von Frauen ging es letztlich immer wieder um die mangelnde Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Leben, auch im öffentlichen Leben der Kirchen; also um die Teilhabe von Frauen an der Macht und damit an der Möglichkeit, das Leben der Gemeinschaft mitzugestalten. Schliesslich ging es auch um die kritische Betrachtung des privaten Raums als eines ambivalenten Ortes, wo Frauen nicht nur Schutz erhielten, sondern auch Gewalt erlitten. Schon damals und nicht erst   mit der #MeToo-Bewegung haben sich Frauen mit sexueller Gewalt in all ihren Formen auseinandergesetzt: von der unsichtbaren häuslichen Gewalt bis zu brutalster sexueller Gewalt an Frauen als Mittel der Kriegsführung, etwa im Bosnienkrieg.

Theologisch fragten wir nach, was es bedeutet, dass die Menschen im biblischen Schöpfungsverständnis nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Da sie sich von diesem Gott kein Bildnis machen dürfen, waren sie auf Bilder von sich selbst zurückgeworfen. Und da mussten Frauen entdecken, dass Gottebenbildlichkeit in der christlichen Tradition weitgehend Mann-Ebenbildlichkeit bedeutet hatte. Frauen wurden von Männern gedacht, beschrieben, gemalt, besungen, aus der Perspektive von Männern «erfunden» und beherrscht. Kurz: Die Definitionsmacht über weibliche Existenz hatten Männer …

… Die entstehende Arbeits- und Begleitgruppe «Feministische Theologie» war sich bald einig: In den kommenden Jahren wollten wir uns schwerpunktmässig mit den Gottes- und Menschenbildern unserer Tradition auseinandersetzen und nachfragen, ob und wie in ihnen Erfahrungen von    Frauen gespiegelt sind: Unterdrückungserfahrungen, aber auch Utopien von Befreiung und gelungenem Leben. Und welche Konsequenzen das für ein Frauen-Menschenbild hätte.

Mit dabei war nun auch Gina Schibler, die junge Pfarre- rin, die der Vorstand des Boldernvereins für das Ressort «Persönliche Lebensgestaltung» ins Studienleitungsteam gewählt hatte und die 1985 ihre Arbeit aufnahm. Wir waren uns schnell einig, dass wir ein grösseres feministisch-theologisches Projekt gemeinsam entwickeln wollten.

Von Reinhild Traitler

«mächtig stolz». 40 Jahre Feministische Theologie und Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz, hg. von Doris Strahm und Silvia Strahm Bernet, unter Mitarbeit von Monika Hungerbühler, eFeF-Verlag, 2022. ca. 300 Seiten, Fr. 40.–.

«Mächtig stolz»

«mächtig stolz» – das ist der Titel einer Textsammlung,   die im Mai erschienen ist. 70 Frauen erinnern sich an die Anfänge und Entwicklungen der feministischen Theologie und der Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz. Eine von diesen Autorinnen ist Ihnen wohlbekannt: Reinhild Traitler. Im Folgenden ein Ausschnitt aus ihrem Text über ihre Jahre als Studienleiterin von Boldern von 1984 bis 2003.

… Das am Fuss des Zürichbergs in der Voltastrasse gelegene Boldernhaus war das Stadthaus des Evangelischen Tagungszentrums Boldern bei Männedorf… Das Boldernhaus war schon seit längerer Zeit schwerpunktmässig ein «Frauenhaus» gewesen. In der Wohnung im zweiten Stock, in die ich nun einziehen würde, hatten viele Jahre lang zwei Ikonen der Schweizer Frauenbewegung residiert: Marga Bührig und Else Kähler.

… Feminismus – die Vokabel war mir damals zwar bereits geläufig, aber noch etwas blass. Ich hatte jahrelang mit gescheiten Männern zusammengearbeitet, für welche die Frauenfrage ein «Nebenwiderspruch» war. Zudem machte ich im ÖRK immer wieder die Erfahrung, dass Frauen ihre Anliegen in einer anderen Sprache und durch andere Vermittlungen darstellen wollten und deswegen oft nicht gehört oder ernst genommen wurden. Auch war das, was wir feministische Theologie nannten, kein Monolith, sondern eher ein Konglomerat, das die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen unter dem Stichwort «Erfahrung» ebenso einbezog wie kreative Formen des Ausdrucks oder liturgische Experimente wie ein «Abendmahl am Küchentisch». Wir fragten nach, inwieweit der weibliche Körper die soziale Existenz von Frauen geprägt hatte und noch prägte und wie das sichtbar gemacht werden konnte …

… Die viel zu grossen Erwartungen und die Hoffnung, dass daraus dennoch etwas werden könnte, all das stand auf einmal vor mir bei meinem Einzug ins Boldernhaus in diesem August 1984. Als wir im Eiltempo die Wohnung eingerichtet hatten, waren auch schon die Frauen an der Tür, die mir helfen wollten, das Haus nach der Pensionierung von Marga Bührig und Else Kähler neu zu positionieren. Einige von ihnen hatte ich in den Anfangswochen in Zürich bereits kennengelernt. Besonders Pfarrerin Dora Wegmann war in dieser Zeit des Sich-Zurechtfindens eine grosse Hilfe. Bei vielen Tassen Kaffee hörte ich von der langen Tradition von Frauenarbeit im Boldernhaus, die vor allem auf Angebote zur Lebenshilfe fokussiert war.

Bei diesen Gesprächen mit einem langsam grösser werdenden Kreis von Frauen ging es letztlich immer wieder um die mangelnde Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Leben, auch im öffentlichen Leben der Kirchen; also um die Teilhabe von Teilhabe von Frauen an der Macht und damit an der Möglichkeit, das Leben der Gemeinschaft mitzugestalten. Schliesslich ging es auch um die kritische Betrachtung des privaten Raums als eines ambivalenten Ortes, wo Frauen nicht nur Schutz erhielten, sondern auch Gewalt erlitten. Schon damals und nicht erst    mit der #MeToo-Bewegung haben sich Frauen mit sexueller Gewalt in all ihren Formen auseinandergesetzt: von der unsichtbaren häuslichen Gewalt bis zu brutalster sexueller Gewalt an Frauen als Mittel der Kriegsführung, etwa im Bosnienkrieg.

Theologisch fragten wir nach, was es bedeutet, dass die Menschen im biblischen Schöpfungsverständnis nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Da sie sich von diesem Gott kein Bildnis machen dürfen, waren sie auf Bilder von sich selbst zurückgeworfen. Und da mussten Frauen entdecken, dass Gottebenbildlichkeit in der christlichen Tradition weitgehend Mann-Ebenbildlichkeit bedeutet hatte. Frauen wurden von Männern gedacht, beschrieben, gemalt, besungen, aus der Perspektive von Männern «erfunden» und beherrscht. Kurz: Die Definitionsmacht über weibliche Existenz hatten Männer …

… Die entstehende Arbeits- und Begleitgruppe «Feministische Theologie» war sich bald einig: In den kommenden Jahren wollten wir uns schwerpunktmässig mit den Gottes- und Menschenbildern unserer Tradition auseinandersetzen und nachfragen, ob und wie in ihnen Erfahrungen von    Frauen gespiegelt sind: Unterdrückungserfahrungen, aber auch Utopien von Befreiung und gelungenem Leben. Und welche Konsequenzen das für ein Frauen-Menschenbild hätte.

Mit dabei war nun auch Gina Schibler, die junge Pfarrerin, die der Vorstand des Boldernvereins für das Ressort «Persönliche Lebensgestaltung» ins Studienleitungsteam gewählt hatte und die 1985 ihre Arbeit aufnahm. Wir waren uns schnell einig, dass wir ein grösseres feministisch-theologisches Projekt gemeinsam entwickeln wollten.

Reinhild Traitler

«mächtig stolz». 40 Jahre Feministische Theologie und Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz, hg. von Doris Strahm und Silvia Strahm Bernet, unter Mitarbeit von Monika Hungerbühler, eFeF-Verlag, 2022. ca. 300 Seiten, Fr. 40.–.

Mittelteil März / April

Passionslieder – fremd im Wort, nah in der Musik

Unser Autor Andreas Marti war Mitglied der «Kleinen Gesangbuchkommission», die von 1984 bis 1998 das neue Reformierte Gesangbuch geschaffen hat. Er geht hier auf die darin enthaltenen Passionslieder ein.

Als der Entwurf zum Reformierten Gesangbuch zu Ende beraten war, führten wir in der «Kleinen Gesangbuchkommission», der Fachkommission, die Schlussabstimmungen über die einzelnen Teilkapitel durch. Ich habe dem Passionskapitel meine Zustimmung verweigert, wohl wissend, dass wir es angesichts des dürftigen Angebots an brauchbaren neueren Passionsliedern nicht wesentlich besser hätten machen können.

Die traditionellen Lieder liegen mit ihrem Verständnis der Passion weitgehend auf der Linie der Sühneopfertheorie: Gott zürnt wegen der Sünde der Menschen und muss durch ein Opfer besänftigt werden, ein Opfer, das die Menschen bringen müssten, das sie aber wegen der «Erbsünde» (über dieses höchst problematische Konstrukt wäre separat zu diskutieren) nicht bringen können. Nur Gott selber ist dazu imstande. So gibt Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch sein Blut zum Lösegeld.

Diese Theorie hat vielleicht den Menschen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit geholfen, ihre Angst vor dem ewigen Verlorensein im Zaum zu halten. Dass sie aber fast die einzige Art war, wie die Passionsberichte der Evangelien verstanden wurden, hat diese eingeengt und sie der Weite ihrer Bedeutungen beraubt. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu standen ja vor der Aufgabe, Leiden und Tod ihres Meisters irgendwie zu verstehen, dem zunächst Sinnlosen im Licht der Erfahrungen von Ostern einen Sinn zu geben. Es lag nahe, dazu Gedanken aus den überlieferten Schriften, unserem Alten Testament, heranzuziehen. Ein solches Deutungsmuster bieten die Lieder vom Gottesknecht im Buch des «Zweiten Jesaja» (Jes 40–55). Der Gottesknecht leidet stellvertretend für das Volk. Dazu kommen aus der Tora, dem mosaischen Gesetz, Vorstellungen über die sühnende Kraft des Opfers, und beides zusammen führt in der Folgezeit zur beschriebenen Sühneopfertheorie.

Einen etwas anderen Ansatz finden wir im «Christushymnus» des Philipperbriefs, der von der Selbsterniedrigung des Gottessohnes spricht. Dort erscheint der Tod am Kreuz als letzte Konsequenz der Menschwerdung Gottes: Gott kommt bis in die dunkelsten und schlimmsten Orte des Menschenlebens. Seine Nähe gilt auch und gerade da, wo Menschen von allen Menschen verlassen und von allen Lebensmöglichkeiten abgeschnitten sind. Gott ist solidarisch mit den Schwächsten, mit den Menschen in Unglück und Not.

Auch wenn wir weitere biblische Gedanken anführen würden, kämen wir doch nicht zu einer eindeutigen und erschöpfenden Deutung. Die Bibel selbst versucht es mit unterschiedlichen Ansätzen, und dabei bleiben Leerstellen, die für einen unaufhörlichen Prozess des Verstehens offen sind, ein Verstehen, in welches wir mit unserer Existenz mit hineingenommen werden, ohne dass wir alles ausformulieren können. Im Grunde lässt sich alles zurückführen und verdichten auf ein pro nobis, auf die Überzeugung, dass all das «für uns» geschehen ist, was immer es im Einzelnen bedeuten mag. Vielleicht ist es diese Art des Verstehens, welche beispielsweise Bachs Passionen nach beinahe 300 Jahren immer noch aktuell hält. Die Musik löst sich von den barocken Texten und führt uns auf die Ebene des offenen «für uns», das wir nicht weiter definieren müssen.

Aber nun zurück zum Gesangbuch. Das vielleicht bekannteste Passionslied ist Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunde (RG 445). Es geht zurück auf einen mittelalterlichen Meditationstext, in welchem der Beter nacheinander die Körperteile des Gekreuzigten betrachtet, von den Füssen bis zum Kopf. Obschon auch für dieses Lied die Sühneopfertheorie den Hintergrund bildet, ist der Schlüssel zum Verständnis hier doch ein anderer: «Ich» stehe vor dem Kreuz und schaue den Gekreuzigten an, und dieses Hinblicken bekommt seine entscheidende Bedeutung im Angesicht des eigenen Todes, wie es die letzten beiden Strophen beschreiben: Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Dieses Hinschauen schafft die Verbindung des Sterbenden mit demjenigen, der in seinem Sterben den Tod besiegt hat – eine Interpretation, welche die Passionsgeschichte tief in die eigene Existenz einfügt, bei der aber manche problematischen Elemente der Tradition und viel barocke Emphase ausgeblendet werden müssen.

Interessanterweise hat Martin Luther kein eigentliches Passionslied gedichtet. Vielmehr hat er im Osterlied Christ lag in Todesbanden (RG 464) Passion und Ostern integriert. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken. Von der compassio, dem emotionalen Anteilnehmen am Leiden Christi, hielt Luther bekanntlich nicht viel. Ihm geht es um das klare Glaubenserkenntnis, dass Gott alles für uns tut und dafür sogar seinen Sohn in den Tod gehen lässt. Das ist freilich zunächst auch wieder das Muster der Sühneopfertheorie, aber Ziel des Gedankens ist die «Rechtfertigung aus Gnade» – dass wir vor Gott ohne eigene Leistung gerecht sind. Das blosse «für uns» konkretisiert sich in einem ebenso knappen «allein aus Gnade».

Das kurze «für uns» prägt die mittelalterliche Passionsweise Ehre sei dir Christe (RG 435) und auch das als Kinderlied gedachte Wir danken dir, Herr Jesu Christ (RG 439), während das 17. Jahrhundert dann die Sühneopfertheorie breit ausformuliert. Christian Fürchtegott Gellert, der bedeutendste Kirchenliedautor des Aufklärungszeitalters im 18. Jahrhundert, legt seinem Lied Du gingst, o Heiland, hin für uns zu leiden (RG 448) ebenfalls die klassische Sühnetheorie zugrunde, ändert dann aber von der zweiten Strophe an die Blickrichtung, und zwar auf die Einheit der Jüngerinnen und Jünger Jesu im gemeinschaftlichen Mahl, auf den Frieden und auf die Liebe: Wenn wir in Frieden beieinander wohnten, Gebeugte stärkten und die Schwachen schonten, dann würden wir den letzten heilgen Willen des Herrn erfüllen. Neben die klassische Interpretation tritt eine Art «Vorbildchristologie», von der traditionellen Theologie als oberflächlich abgetan, aber im Ruf zur Nachfolge biblisch begründet: Das Leiden soll nicht Hass erzeugen, sondern die Liebe bewahren, wie Gellert es in seinem anderen Passionslied schreibt, Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken (RG 449), oder im Lied Liebe, du ans Kreuz für uns erhöhte» (RG 450), wie wir es beim Herrnhuter Karl Bernhard Garve lesen.

Von den neueren Liedern steht Was ihr dem geringsten Menschen tut (RG 457) in dieser Vorbildtradition, aber im umgekehrten Sinne: Im leidenden Mitmenschen begegnet uns der leidende Christus. Gottes Solidarität ruft uns zur Nachfolge in unserer Solidarität mit den Schwachen und Leidenden. Andere Lieder verbinden – wie Luther – Passion und Ostern und besingen die Überwindung des Todes: Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt (RG 456), Du schöner Lebensbaum des Paradieses (RG 454) und Holz auf Jesu Schulter (RG 453). Das «Hinsehen», das in Gerhardts Lied so wichtig ist, begegnet uns wieder in Seht hin, er ist allein im Garten (RG 452). Es ruft uns dazu auf, nicht wegzusehen: So, wie wir auf die Passion Jesu schauen, sollen wir uns auch dem Leiden unserer Zeit stellen. Zum Sehen kommt das Hören: Auf die knapp gefasste Passionserzählung reduziert ist Hört das Lied der finstern Nacht (RG 455). Das Passionsgedenken wird auf die fast unkommentierte Erzählung zurückgeführt und bleibt in dem Sinne bedeutungsoffen, wie es oben angedeutet wurde. Einzig der Schlusssatz gibt eine Interpretation des «für uns»: … reisst durch seinen Tod uns aus Nacht und Not.

Von Andreas Marti

Mittelteil

Der glückliche Abschluss eines grossen Projekts

von Elisabeth Wyss-Jenny

Von 2012 bis 2019 wurde als Projekt des Klosters Kappel am Albis der Text  des Alten und des Neuen Testaments durch 32 Kalligrafinnen und Kalligrafen auf handgeschöpftes Papier geschrieben, mit kalligrafischen Bildseiten bereichert und zuletzt in vier Bände gebunden. Am 13. März 2022 findet nun in der Klosterkirche die Abschlussfeier statt, coronabedingt um ein Jahr verschoben.

Als theologische Mitarbeiterin im Kloster Kappel hatte ich mir immer wieder überlegt, welches ein Projekt sich an diesem Ort realisieren liesse, das dem Sinn und Geist des Hauses gerecht würde. Und plötzlich war sie da, die Idee: Mit einer kalligrafischen Abschrift die Zürcher Bibel zu würdigen, die 2007 nach langer, intensiver Übersetzungszeit neu erschienen war. 500 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks sollte zum Reformationsjubiläum 2019 eine individuelle und einmalige Bibelausgabe entstehen, Buchstabe für Buchstabe von Hand abgeschrieben. Neben dem Text jeweils nach 16 Seiten mit einer kalligrafischen Seite bereichert. Ein Werk, das dem reformatorischen Leitsatz sola scriptura einen neuen Akzent zu geben imstande wäre.

Wenn der Buchdruck die Erfindung war, welche der Reformation Schub gegeben hatte, so hatte er doch auch die individuellen kalligrafischen Bibelabschriften verdrängt, die vor allem in den Klöstern erstellt worden waren. 500 Jahre später wieder eine individuelle Abschrift in Langsamkeit zu schaffen – die Idee fand bei den Verantwortlichen schnell Anklang. Während des Jahres 2011 wurde sie weiter bearbeitet. Details wie Schriftart und -grösse sowie -farbe, Papierbeschaffenheit, Schreibwerkzeug und dazu passende Tinte wurden geklärt, sodass am 26. Februar 2012 an einer Vernissage die ersten Seiten und das Konzept präsentiert werden konnten. Das Projekt mit dem Namen «Kein Jota soll verlorengehen» fand sogleich Interesse bei einer grossen Anzahl von potentiellen Mitschreibenden sowie in der Presse. Zum Mitschreiben eingeladen waren Frauen und Männer mit kalligrafischer Vorbildung. Interessierten wurde auch ein einführender Kurs angeboten.

In der ehemaligen Schatzkammer des Klosters

Ein geeigneter Raum für das Scriptorium war bald gefunden: die ehemalige Schatzkammer des Klosters, ein gefangener Raum hinter dem ehemaligen Schlafraum der Mönche. Ein ausgeliehenes Leuchtpult und ein umgebautes Stehpult bildeten die neue Einrichtung. Später kamen ein weiteres geschenktes Leuchtpult und ein portables Modell dazu, sodass bis zu vier Arbeitsplätze möglich waren. Da der Raum gegen die Nordostseite lag, blieb er auch im Sommer angenehm kühl und verströmte eine gute Atmosphäre, die zu Stille und Konzentration einlud. Wenn der Raum für einmal nicht zugänglich war, konnte mit dem portablen Modell auf einen anderen Raum ausgewichen werden.

Wer kam, um zu schreiben, zog sich – manchmal gleich im Anschluss an das Morgengebet – ins Scriptorium zurück und blieb bis zum Mittagsgebet dort. Nach dem gemeinsamen Mittagessen konnte dann der zweite Teil der Seite in Angriff genommen werden. Ziel war es, an einem Tag eine ganze Seite zu erstellen und pro Zeile möglichst achtzig Zeichen unterzubringen. Meistens gelang das den Schreibenden mühelos.

In den Jahren 2012–2019 wurden so 1039 Schreibtage im Hause absolviert, vielmals als Einzeltage, zuweilen aber auch in mehrtägigem Aufenthalt. Einkehrtage von unschätzbarem Wert, wie Schreibende sagten.

Zu zwei Gelegenheiten wurde das Scriptorium temporär verlegt: vom 26. bis
30. März 2014 in den Chorraum des Grossmünsters, an den Platz, an dem Zwingli mit seinen Mitübersetzern die Prophezey installiert hatte, die ursprüngliche Übersetzungswerkstatt der Zürcher Bibel. Das Interesse der vielen Besuchenden im Grossmünster war gross und die Aktion für die Schreibenden ein Erlebnis.

Die zweite Aktion betraf zwei ganze Schreibwochen anlässlich der «Weltausstellung Reformation» in Wittenberg im Sommer 2017. Unmittelbar neben einer nachgebauten Gutenbergpresse, wo die Errungenschaft des Buchdrucks gefeiert wurde, schrieben eine Kalligrafin und ein Kalligraf ungerührt in Langsamkeit und mit gestochener Schrift am Buch der Sprüche, vielmals unterbrochen und bewundert in ihrem Handwerk.

Mehr als dreissig Fässli Tinte sind durch Dutzende von Federn gelaufen, dreimal musste Papier in der Basler Papiermühle von Hand geschöpft werden, damit alle Buchstaben aufs Papier gebracht werden konnten. Und der Super-Gau hat sich nicht eingestellt: Kein Tintenfässli hat sich über geschriebene Seiten ergossen, der Boden des Scriptoriums jedoch muss aufgefrischt werden …

Wie beim Zürcher Drucker Froschauer im 16. Jahrhundert entstand zuerst das Neue Testament, einbändig, fertiggestellt 2015 mit 445 Seiten. Als im Februar 2015 die Abschrift beendet war, war es keine Frage, auch das Alte Testament in Angriff zu nehmen. Am 19. Februar 2015 wurden die ersten Worte vom Buch Genesis aufs Papier gebracht. Im Ganzen sind es drei Bände mit 1566 Seiten.

Niemals kam in der Leitung die Angst auf, das Projekt könnte an zu wenig Schreibenden scheitern. Immer wieder meldeten sich neue Interessierte. Der letzte konnte gerade noch vor dem coronabedingten Unterbruch seine erste und einzige Seite schreiben. 32 hochqualifizierte Freiwillige brachten das Werk gemeinsam zustande. Selbst als die letzten Seiten im Homeoffice geschrieben werden mussten, war der Einsatz ungebrochen. Es entstanden während dieser Jahre neue Beziehungen, viele wertvolle Bekanntschaften, die über das Projekt hinaus Bestand haben. Das erfüllt uns mit grosser Dankbarkeit.

«Ihr kopiert das doch?»

Seit Projektbeginn war klar, dass die Abschrift ein Unikat bleiben sollte. Dennoch setzte sich mit der Zeit die Einsicht durch, dass das Werk für alle frei zugänglich sein sollte. Nach dem Vorbild der Froschauerbibel von 1531, die im Grossmünster ausgestellt ist, sollte diese Abschrift in einer digitalisierten Form auf einem Touchscreen einsehbar sein. Das Digitalisierungszentrum der Zentralbibliothek Zürich übernahm die Aufgabe gerne. Es war schön, zu erleben, wie sich der Leiter jedes Mal über eine neue Lieferung von 300 und mehr Seiten freute. Stolz zeigte er die Seiten jeweils, wenn sich interessierte Gäste in seiner Abteilung der Zentralbibliothek aufhielten. Er bewältigte mit seinen Mitarbeitenden alle Tücken einer solch grossen Aufgabe. Zum Schluss übernahm er es auch, die kalligrafischen Seiten, die in der abschliessenden Ausstellung gezeigt werden sollen, zu drucken und in die Rahmen einzulegen.

So können im Rahmen des Festtages auch viele der einmaligen kalligrafischen Bildseiten in den Räumen des Klosters Kappel angesehen und sogar erworben werden. Und am Touchscreen bleibt Zeit, einen geliebten Bibelvers zu suchen oder einen neuen zu entdecken, wie es die Leserinnen und Leser der Bolderntexte täglich tun.

Festtag zur Vollendung der Kappeler Bibel am 13. März 2022
10.30 Uhr Gottesdienst in der Klosterkirche Kappel. Anschliessend Apéro im Amtshaus.
14.30 Uhr «Wunderwerk Bibel». Vortrag von Konrad Schmid, Professor für Altes Testament an der Universität Zürich
Die Ausstellung der Kalligrafien im Kloster Kappel ist ab 27. Februar 2022 zu sehen.