Der glückliche Abschluss eines grossen Projekts

von Elisabeth Wyss-Jenny

Von 2012 bis 2019 wurde als Projekt des Klosters Kappel am Albis der Text  des Alten und des Neuen Testaments durch 32 Kalligrafinnen und Kalligrafen auf handgeschöpftes Papier geschrieben, mit kalligrafischen Bildseiten bereichert und zuletzt in vier Bände gebunden. Am 13. März 2022 findet nun in der Klosterkirche die Abschlussfeier statt, coronabedingt um ein Jahr verschoben.

Als theologische Mitarbeiterin im Kloster Kappel hatte ich mir immer wieder überlegt, welches ein Projekt sich an diesem Ort realisieren liesse, das dem Sinn und Geist des Hauses gerecht würde. Und plötzlich war sie da, die Idee: Mit einer kalligrafischen Abschrift die Zürcher Bibel zu würdigen, die 2007 nach langer, intensiver Übersetzungszeit neu erschienen war. 500 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks sollte zum Reformationsjubiläum 2019 eine individuelle und einmalige Bibelausgabe entstehen, Buchstabe für Buchstabe von Hand abgeschrieben. Neben dem Text jeweils nach 16 Seiten mit einer kalligrafischen Seite bereichert. Ein Werk, das dem reformatorischen Leitsatz sola scriptura einen neuen Akzent zu geben imstande wäre.

Wenn der Buchdruck die Erfindung war, welche der Reformation Schub gegeben hatte, so hatte er doch auch die individuellen kalligrafischen Bibelabschriften verdrängt, die vor allem in den Klöstern erstellt worden waren. 500 Jahre später wieder eine individuelle Abschrift in Langsamkeit zu schaffen – die Idee fand bei den Verantwortlichen schnell Anklang. Während des Jahres 2011 wurde sie weiter bearbeitet. Details wie Schriftart und -grösse sowie -farbe, Papierbeschaffenheit, Schreibwerkzeug und dazu passende Tinte wurden geklärt, sodass am 26. Februar 2012 an einer Vernissage die ersten Seiten und das Konzept präsentiert werden konnten. Das Projekt mit dem Namen «Kein Jota soll verlorengehen» fand sogleich Interesse bei einer grossen Anzahl von potentiellen Mitschreibenden sowie in der Presse. Zum Mitschreiben eingeladen waren Frauen und Männer mit kalligrafischer Vorbildung. Interessierten wurde auch ein einführender Kurs angeboten.

In der ehemaligen Schatzkammer des Klosters

Ein geeigneter Raum für das Scriptorium war bald gefunden: die ehemalige Schatzkammer des Klosters, ein gefangener Raum hinter dem ehemaligen Schlafraum der Mönche. Ein ausgeliehenes Leuchtpult und ein umgebautes Stehpult bildeten die neue Einrichtung. Später kamen ein weiteres geschenktes Leuchtpult und ein portables Modell dazu, sodass bis zu vier Arbeitsplätze möglich waren. Da der Raum gegen die Nordostseite lag, blieb er auch im Sommer angenehm kühl und verströmte eine gute Atmosphäre, die zu Stille und Konzentration einlud. Wenn der Raum für einmal nicht zugänglich war, konnte mit dem portablen Modell auf einen anderen Raum ausgewichen werden.

Wer kam, um zu schreiben, zog sich – manchmal gleich im Anschluss an das Morgengebet – ins Scriptorium zurück und blieb bis zum Mittagsgebet dort. Nach dem gemeinsamen Mittagessen konnte dann der zweite Teil der Seite in Angriff genommen werden. Ziel war es, an einem Tag eine ganze Seite zu erstellen und pro Zeile möglichst achtzig Zeichen unterzubringen. Meistens gelang das den Schreibenden mühelos.

In den Jahren 2012–2019 wurden so 1039 Schreibtage im Hause absolviert, vielmals als Einzeltage, zuweilen aber auch in mehrtägigem Aufenthalt. Einkehrtage von unschätzbarem Wert, wie Schreibende sagten.

Zu zwei Gelegenheiten wurde das Scriptorium temporär verlegt: vom 26. bis
30. März 2014 in den Chorraum des Grossmünsters, an den Platz, an dem Zwingli mit seinen Mitübersetzern die Prophezey installiert hatte, die ursprüngliche Übersetzungswerkstatt der Zürcher Bibel. Das Interesse der vielen Besuchenden im Grossmünster war gross und die Aktion für die Schreibenden ein Erlebnis.

Die zweite Aktion betraf zwei ganze Schreibwochen anlässlich der «Weltausstellung Reformation» in Wittenberg im Sommer 2017. Unmittelbar neben einer nachgebauten Gutenbergpresse, wo die Errungenschaft des Buchdrucks gefeiert wurde, schrieben eine Kalligrafin und ein Kalligraf ungerührt in Langsamkeit und mit gestochener Schrift am Buch der Sprüche, vielmals unterbrochen und bewundert in ihrem Handwerk.

Mehr als dreissig Fässli Tinte sind durch Dutzende von Federn gelaufen, dreimal musste Papier in der Basler Papiermühle von Hand geschöpft werden, damit alle Buchstaben aufs Papier gebracht werden konnten. Und der Super-Gau hat sich nicht eingestellt: Kein Tintenfässli hat sich über geschriebene Seiten ergossen, der Boden des Scriptoriums jedoch muss aufgefrischt werden …

Wie beim Zürcher Drucker Froschauer im 16. Jahrhundert entstand zuerst das Neue Testament, einbändig, fertiggestellt 2015 mit 445 Seiten. Als im Februar 2015 die Abschrift beendet war, war es keine Frage, auch das Alte Testament in Angriff zu nehmen. Am 19. Februar 2015 wurden die ersten Worte vom Buch Genesis aufs Papier gebracht. Im Ganzen sind es drei Bände mit 1566 Seiten.

Niemals kam in der Leitung die Angst auf, das Projekt könnte an zu wenig Schreibenden scheitern. Immer wieder meldeten sich neue Interessierte. Der letzte konnte gerade noch vor dem coronabedingten Unterbruch seine erste und einzige Seite schreiben. 32 hochqualifizierte Freiwillige brachten das Werk gemeinsam zustande. Selbst als die letzten Seiten im Homeoffice geschrieben werden mussten, war der Einsatz ungebrochen. Es entstanden während dieser Jahre neue Beziehungen, viele wertvolle Bekanntschaften, die über das Projekt hinaus Bestand haben. Das erfüllt uns mit grosser Dankbarkeit.

«Ihr kopiert das doch?»

Seit Projektbeginn war klar, dass die Abschrift ein Unikat bleiben sollte. Dennoch setzte sich mit der Zeit die Einsicht durch, dass das Werk für alle frei zugänglich sein sollte. Nach dem Vorbild der Froschauerbibel von 1531, die im Grossmünster ausgestellt ist, sollte diese Abschrift in einer digitalisierten Form auf einem Touchscreen einsehbar sein. Das Digitalisierungszentrum der Zentralbibliothek Zürich übernahm die Aufgabe gerne. Es war schön, zu erleben, wie sich der Leiter jedes Mal über eine neue Lieferung von 300 und mehr Seiten freute. Stolz zeigte er die Seiten jeweils, wenn sich interessierte Gäste in seiner Abteilung der Zentralbibliothek aufhielten. Er bewältigte mit seinen Mitarbeitenden alle Tücken einer solch grossen Aufgabe. Zum Schluss übernahm er es auch, die kalligrafischen Seiten, die in der abschliessenden Ausstellung gezeigt werden sollen, zu drucken und in die Rahmen einzulegen.

So können im Rahmen des Festtages auch viele der einmaligen kalligrafischen Bildseiten in den Räumen des Klosters Kappel angesehen und sogar erworben werden. Und am Touchscreen bleibt Zeit, einen geliebten Bibelvers zu suchen oder einen neuen zu entdecken, wie es die Leserinnen und Leser der Bolderntexte täglich tun.

Festtag zur Vollendung der Kappeler Bibel am 13. März 2022
10.30 Uhr Gottesdienst in der Klosterkirche Kappel. Anschliessend Apéro im Amtshaus.
14.30 Uhr «Wunderwerk Bibel». Vortrag von Konrad Schmid, Professor für Altes Testament an der Universität Zürich
Die Ausstellung der Kalligrafien im Kloster Kappel ist ab 27. Februar 2022 zu sehen.