Autor: Elisabeth Raiser

24. Dezember

Die Weisen taten ihre Schätze auf und schenkten dem
Kindlein Gold, Weihrauch und Myrrhe.
Matthäus 2,11

Die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland ist
wunderbar – und viele Kinder, die in einem Krippenspiel
mitmachen wollen und können, möchten diese schöne Rolle
der Könige, der Weisen einmal spielen. Ihre Geschenke sind
glänzend wie das Gold oder wohlriechend und wertvoll wie
Weihrauch und Myrrhe. Sie drücken aus, dass die Weisen die
Besonderheit dieses kleinen Kindes erkannt haben, obwohl
es in Armut geboren wurde: zwischen Tieren, die es mit
ihrem Atem wärmten, aber ohne Hebamme, ohne Decke,
ohne Wiege, sondern als Wiege die liebenden Arme der
Mutter und eine Krippe mit Stroh.
Welche Geschenke würden wir dem Kind bringen oder
bringen wir ihm jedes Jahr zu Weihnachten? Wir schenken
die Erinnerung an ihn und sein Leben, an seine Heilungen,
an seine Liebe zu allen Menschen, auch und gerade zu den
Elendsten. Wir schenken unseren Dank, unsere Sehnsucht
nach einem geheilten Leben. Niemand drückt diesen Dank
so wunderbar aus wie Paul Gerhard: «Ich steh an deiner
Krippen hier, o Jesu, du mein Leben. Ich komme, bring und
schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein
Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass
dir’s wohl gefallen.» Unsere erwachsenen Kinder, unsere
Enkelkinder und wir mit ihnen singen kein Lied mit der gleichen
Inbrunst wie dieses!

Von: Elisabeth Raiser

23. Dezember

Ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde
ist immer vor mir.
Psalm 51,5

Es gibt Tage, manchmal Wochen in unserem Leben, in denen
wir niedergeschlagen und traurig sind, vielleicht weil wir
eine Tat oder auch nur einen Gedanken bereuen. Dann hat
diese Traurigkeit einen triftigen Grund, und wir brauchen die
Möglichkeit, diese Schuld zu bekennen und, wenn es geht,
sie wiedergutzumachen. Dabei können ein seelsorgerliches
Gespräch und die innige Bitte um die Vergebung durch
Gott helfen, die nötigen Schritte zu tun. In dieser seelischen
Situation hat sich der Schreiber oder die Schreiberin dieses Psalms wohl befunden, viele Verse des Psalms zeugen davon.
Was mich besonders bewegt, ist die tiefe Traurigkeit,
heute würden wir wohl von Depression sprechen, von der
er oder sie spricht. Eine solche Traurigkeit kann uns auch
ohne erkenntlichen Grund heimsuchen; es ist eine dunkle
Aussichtslosigkeit und fühlt sich an wie ein Abgrund, in den
wir sinken und aus dem wir nicht wieder herauskommen.
Ist das eine Schuld, eine Sünde? Nein. Ich glaube, es ist das
Bröckeln oder gar der Verlust des Vertrauens in das Leben.
In Vers 10 heisst es: «Lass mich hören Freude und Wonne,
dass die Gebeine fröhlich werden» und in Vers 12: «Schaffe in
mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, gewissen
Geist.» Dies verstehe ich als Bitte um ein neues, gewisses,
zuversichtliches Vertrauen, das uns trägt. Um Gottes Nähe!

Von: Elisabeth Raiser

24. Oktober

In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht
der Menschen.
Johannes 1,4

Direkt im Anschluss an die bewegende Geschichte von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin sagt Jesus von sich selbst: «Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.» (Johannes 8,12) Licht und Leben sind untrennbar miteinander verbunden. Unsere eigene Erfahrung bestätigt das – jetzt, während ich schreibe, begleitet uns das lange, helle Licht des Sommers, und das Leben ist sicher für viele von uns dadurch leichter und intensiver.
Wenn ich jedoch an Jesus Christus denke, dessen Leben dem heutigen Lehrtext entsprechend das Licht der Menschen war – und ich würde hinzufügen: auch heute noch ist –, dann denke ich an seine Zuwendung besonders zu den Menschen, die «im Dunkeln wohnen»: an die gekrümmte Frau, die er aufrichtete, an die Samariterin am Brunnen, an die Ehebrecherin, an den Zöllner Zachäus, an den Aussätzigen oder den Blinden, die er heilte, und all die andern, die er in ihrer Dunkelheit sah und ans Licht des Lebens holte. Unsere christliche Ethik speist sich aus diesen Geschichten – alle diakonische Arbeit vor Ort aber auch, zum Beispiel das Flüchtlingsrettungsboot der Kirche auf dem Mittelmeer. Die Erzählungen von Jesus bringen Licht ins Dunkel – sein Leben war und ist auch heute das Licht von uns Menschen.

Von: Elisabeth Raiser

23. Oktober

Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. Psalm 71,9

In meinem inzwischen recht hohen Alter kann mir ein solches Stossgebet leicht über die Lippen kommen. Ich bete es manchmal im Stillen, aber nicht wie im Psalm 71, weil ich mich von Mitmenschen oder von Krankheiten verfolgt fühle, sondern eher umgekehrt, weil es mir gut geht, ich das Leben im Alter als sehr reich und schön empfinde und sehr dankbar dafür bin. Aber mir ist natürlich bewusst, dass sich das schnell ändern kann, wer weiss, welche Krankheiten und welche individuellen oder gesellschaftlichen und politischen Katastrophen auf einen warten. Aber sie liegen bei allem Leid, das auf der Welt herrscht, für mich noch in der Zukunft. Gerade deshalb spricht dieser Psalmvers zu mir: Verwirf mich nicht in meinem Alter und verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. Die Schwäche bezieht sich ja nicht nur auf den Körper – wir können auch schwach werden im Umgang mit unseren Mitmenschen. Im Vers 16 heisst es: Ich gehe einher in der Kraft Gottes des Herrn; ich preise deine Gerechtigkeit allein. Darin liegt all die Zuversicht und Hoffnung, die uns trägt. Bonhoeffer sagt es so überzeugend in seinem Glaubensbekenntnis:
«Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.»

Von: Elisabeth Raiser

24. August

Sieh her, ich nehme deine Sünde von dir
und lasse dir Feierkleider anziehen.
Sacharja 3,4

Dieser Satz Gottes erinnert an das Gleichnis vom verlorenen
Sohn (Lukas 22); und die Losungen haben als Lehrtext das
Ende dieses Gleichnisses gewählt. Beide Bibelstellen erläutern
unterschiedlich, was die Festtagskleider, die Gott uns
Menschen anziehen kann, bedeuten können: Bei Sacharja
sind sie ein Zeichen dafür, dass ein Mensch von seiner Sünde
befreit wird. Beim verlorenen Sohn sind sie ein Zeichen dafür,
dass ein Mensch, der verloren war oder sich verloren hatte,
wiedergefunden wurde.
Mir fallen dabei einige Verse aus der «Harzreise» von
Goethe ein und sie klingen in mir in der wunderbaren Vertonung
von Johannes Brahms: «Aber abseits wer ist’s – ins
Gebüsch verliert sich sein Pfad, die Öde verschlingt ihn …
Erst verachtet, nun ein Verächter zehrt er heimlich auf seinen
eigenen Wert in ung’nügender Selbstsucht … Ist auf deinem
Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich,
so erquicke sein Herz …»
Wenn er diesen Ton vernommen hat, kann er langsam
zurückkommen in die Gemeinschaft seiner Mitwelt. Und
ich stelle mir vor, dass, bewegt vom Ton des Psalters und
zum Ausdruck des Glücks und der Dankbarkeit darüber, er
sich oder die Gemeinschaft ihm Feierkleider anziehen wird.

Von: Elisabeth Raiser

23. August

Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft
vollendet sich in der Schwachheit.
2. Korinther 12,9

Dorothee Sölle beschreibt in ihrem frühen Buch «Die Hinreise», wie sie nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe auf einer
Reise durch Belgien völlig verzweifelt in einer Kirche sass
und ihr ganz unerwartet die Worte aus dem Korintherbrief
einfielen: «Lass dir an meiner Gnade genügen!» Diese Worte
retteten sie aus einer tiefen Depression und einem Todeswunsch,
und sie lernte wieder zu leben und zu neuen Ufern
aufzubrechen. Ein sehr eindrucksvoller Text!
«Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft
ist in den Schwachen mächtig» (Lutherübersetzung). Diese
ganze Zusage Gottes hat auch mir über manche depressive
Stimmung geholfen: Du musst nicht immer stark und strahlend
sein – Gott hält oder trägt dich gerade dann, wenn du
schwach bist. Ich kenne kaum ein Wort in der Bibel, das uns
heutigen Menschen besser helfen könnte. Uns, die wir politisch
wach und gerade deshalb oft verzweifelt sind, weil wir
uns schwach fühlen und keinen Hebel entdecken, an dem
wir drehen können, um die Dinge zum Besseren zu wenden –
sei es in der Klimakrise, bei den immer weiter wütenden
Kriegen, der wachsenden gesellschaftlichen und globalen
Polarisierung. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Wie, das wissen wir nicht, aber auf geheimnisvolle Weise gibt
sie uns Hoffnung und neuen Lebensmut.

Von: Elisabeth Raiser

24. Juni

Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch
reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung.

Philipper 1,9

Erkenntnis und Erfahrung: Wie sehr brauchen wir das in
diesen kriegerischen und politisch unruhigen Zeiten. Wir
bitten darum, wir versuchen uns kundig zu machen, wir
leiden mit den Opfern von physischer, aber auch von psychischer
Gewalt.
Ich lebe in Berlin. Im Herbst stehen Wahlen in drei Bundesländern
in Ostdeutschland an, und viele von uns erkennen
erschrocken, aber auch zur besseren Erkenntnis entschlossen,
wie wichtig es ist, unsere Demokratie vor autoritären,
rechtsextremen Bewegungen und Parteien zu schützen.
Es leuchtet mir unmittelbar ein, dass Liebe gepaart mit
Erkenntnis und Erfahrung nicht nur im gesellschaftspolitischen,
sondern auch im persönlichen Umfeld mehr Gutes
bewirken kann als nur emotional gesteuerte Liebe. Es gehört
in Krisensituationen dann auch Widerstand und Widerspruch
dazu. Wenn Widerspruch mit Achtung vorgebracht
wird, von Respekt und Liebe im weitesten Sinn getragen,
kann Widerstand viel bewirken, und wenn er es nicht kann,
brauchen wir nicht zu verzweifeln. Wir sollten uns hüten vor
einem Kippen in den Hass. Aber das schaffen wir wohl nicht
allein. Das Gebet um Ruhe und Zuversicht, auch in Niederlagen,
hilft uns, aufrecht zu bleiben.
Bleib uns bitte nahe, Gott!

Von: Elisabeth Raiser

23. Juni

Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern.
Psalm 22,23

… und Schwestern. Der Psalm 22 ist der grosse Klagepsalm
eines Schwerkranken oder eines Gefolterten, dessen Verzweiflung
uns noch heute unter die Haut geht. Er ruft mit
aller Kraft, die ihm verblieben ist, nach Gottes Hilfe in seiner
Not. Seine ersten Worte sind die, die Jesus am Kreuz wiederholt:
«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
» Es ist ein Ruf, der sicher auch heute vielen Menschen
in all der Gewalt, die sie erleben, über die Lippen kommt.
Möge auch für sie der Wendepunkt kommen: «Du hast mich
erhört!» (Vers 22) Dann, ab Vers 23, folgen die Lobpreisungen
und Danksagungen an den grossen, gnädigen einzigen Gott,
sehr poetisch, mit immer neuen Wendungen, ein Dankgebet,
in das wir Menschen wohl nur einstimmen können, wenn
wir von wirklicher Not erlöst werden. Wo werden heute
solche Dankgebete gesprochen? In der Ukraine von den
Eltern, wenn der Sohn nach vielen Monaten an der Front
unversehrt zurückkehrt, in Gaza, wenn die schwer verletzte
Mutter aus den Trümmern ihres Hauses geborgen wird,
überlebt und gesund wird; in Israel, wenn die Tochter und
die Enkelkinder, die als Geiseln verschleppt waren, zurückgebracht
werden. Oder von uns nach schwerer Krankheit?
Ich glaube, die wirkliche Heilung nach solchen Katastrophen
kann nur durch tiefen Dank kommen. Die Errettung können
wir nicht selber schaffen.
Gott sei Lob und Dank!

Von: Elisabeth Raiser

24. April

Der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiss, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden. Matthäus 28,56

Diesmal halte ich mich an das Datum: Es ist schon über zwei Wochen nach Ostern, aber es geht um das Osterwunder, die den Frauen an der Grabhöhle damals und uns heute unbegreifliche Auferstehung Jesu vom Tod. Den Frauen, allen voran Maria Magdalena, erschien Jesus als Auferstandener, aber er war gleichzeitig schon entrückt – sie konnte ihn, den so sehr geliebten, nicht mehr berühren (Johannes 20,11–18). Aber sie sah ihn. Das ist uns durch die zwei Jahrtausende seither nicht mehr vergönnt, mit den wenigen Ausnahmen der Heiligen, denen er noch einmal in einer Vision erschienen ist. Aber dennoch leben unser Glaube und unsere Hoffnung von diesem Ereignis, auch wenn es uns geht wie den Frauen am Grab. Wo wir Jesus bewusst suchen, hören wir oft einen unsichtbaren Engel sagen: Er ist nicht hier. Wo ist er? Wo können wir ihn finden?

Ist er bei den vielen Menschen, denen Leid geschieht, wie er in seinem Leben bei den Menschen war, die litten, an Krankheit, an Gewalt oder Verachtung oder einfach an Armut? Ich glaube ja, und er ist bei all denen, die zu diesen Menschen gehen und ihnen unter manchmal grossen Gefahren helfen, z.B. im Gazastreifen. Manchmal spüren auch wir, die wir auf der Sonnenseite des Lebens stehen, seine Nähe, unerwartet, unverdient und beglückend, eine wunderbare Gnade Gottes.

Von: Elisabeth Raiser

23. April

Jesus: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiss nicht wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht. Markus 4,2628

Vor gut zwei Wochen war Ostern – und doch möchte ich noch einmal zurückgehen an den Anfang des Jahres, an dem ich diesen Text schreibe. Noch beflügelt mich Zuversicht, dass dies ein gutes Jahr wird. Dazu tragen wesentlich ein kleiner Junge von zwei Jahren und sein noch viel kleinerer, erst zwei Monate alter Bruder bei, beide Urenkel von uns. Nun ist es für uns schon die dritte glückliche Periode, in der wir eins nach dem andern ein neu geborenes Kind mit allen seinen winzig kleinen perfekten Gliedmassen, dem Gesichtchen, der Stimme usw. bestaunen, und auch wenn die Genetik uns ziemlich genau erklären kann, wie das zustande kommt, bleibt es ein unfassbares Wunder – es geht auf und wächst, und im Grunde wissen wir nicht wie. So ist mir das Gleichnis des Reiches Gottes, das ist wie ein Samen, der aufgeht und der Sämann weiss nicht wie, ganz nah. Das Reich Gottes wird uns geschenkt und hängt nicht von uns ab, sondern erfüllt uns, da wo es sich zeigt, mit Glück und Dankbarkeit. Wir können sicher dazu beitragen, dass es da, wo es sich zeigt – in den Kindern, in der Natur, im friedfertigen Zusammenleben der Menschen, in der Musik – behütet wird und gedeihen kann. Dann springt der Funke auf uns über! Wunderbar!

Von: Elisabeth Raiser