Die Stunde kommt, und sie ist jetzt da, in der die
wahren Beter in Geist und Wahrheit zum Vater beten
werden. Johannes 4,23
Als Rabbi Jischmael sich aufmachte, um Gott in Jerusalem
anzubeten, begegnete ihm ein Samaritaner und fragte ihn:
«Wäre es nicht besser für dich, auf diesem gesegneten Berg
zu beten als auf jenem Misthaufen?» Mit dem «gesegneten
Berg» meinte er den Garizim, den heiligen Berg der Samaritaner.
Der Jerusalemer Tempelberg hingegen war aus samaritanischer
Sicht ein «Misthaufen». – Der kleine interreligiöse
Dialog macht deutlich, wie tief der Graben zwischen Juden
und Samaritanern damals war. Dass der jüdische Mann Jesus
in der Szene, aus der der heutige Lehrtext stammt, mit einer
samaritanischen Frau in Dialog tritt, ist eine Grenzüberschreitung
sondergleichen.
Nichtsdestotrotz bleibt Jesus der Mensch jüdischer Herkunft,
der er ist: «Das Heil», sagt er, «kommt von den Juden»
(Vers 22). Doch dann transzendiert er diese chauvinistische
Position, transferiert sich selber in jenes grenzenlose Drüben,
das in ihm hier schon, heute schon angebrochen ist. Dass das
Gebet «in Geist und Wahrheit» vollzogen wird, setzt den
Ich-Tod voraus, in dem alle personalen, lokalen, nationalen
Eigeninteressen überwunden sind. Im Johannesevangelium
wird dieser Ich-Tod symbolisiert durch das «Weggehen»
Jesu Christi: Wenn er gehe, sagt er selbst, entstehe Raum für
den «Geist der Wahrheit», der kommt (Johannes 16,7–13!).
Von: Andreas Fischer