Der Mann soll seine Frau nicht vernachlässigen,
ebenso nicht die Frau ihren Mann.
1. Korinther 7,3

Was hier mit «nicht vernachlässigen» übersetzt ist, bedeutet gemäss dem griechischen Urtext eigentlich: «die Pflicht erfüllen». Dies wiederum ist Euphemismus, beschönigende Rede für den Geschlechtsverkehr. Im nächsten Vers wird diese Pflicht zur Pflichterfüllung begründet: «Die Frau verfügt nicht über ihren Körper, sondern der Mann; ebenso verfügt auch der Mann nicht über seinen Körper, sondern die Frau.» Man denkt – umso mehr, als in der Zeit, in der ich diesen Text schreibe, in Frankreich der Pélicot-Prozess stattfindet – dass solchen Behauptungen ein klares «Nein ist Nein» oder auch «Ja ist Ja» vorzuziehen sei.
Immerhin fällt die «partnerschaftliche Argumentation» (Luise Schottroff) bei Paulus auf. Sie ist im Frauen diskriminierenden antiken Umfeld ungewöhnlich und ein Hinweis darauf, dass es Paulus nicht um Missbrauch und Ausbeutung geht. Wenn die unverbrüchliche Selbstbestimmung über den eigenen Körper vorausgesetzt ist, werden die Überlegungen des Paulus für einen mystischen Weg interessant. Denn dieser besteht seinem Wesen nach in der Hingabe des eigenen Ich. Dorothee Sölle schreibt in ihrem Buch «Mystik und Widerstand»: «Die Entmachtung des Ich, die die Mystik braucht, setzt das selbständige, entscheidungsfähige Ich voraus. Es muss ein Ich da sein, wo ein Ich-los-Werden versucht wird.»

Von: Andreas Fischer