Verachte nicht die Unterweisung durch den
HERRN und sei nicht unwillig, wenn er dich ermahnt.
Sprüche 3,11

Aufs Erste berührt mich dieser Vers unangenehm, weil er in seiner Wortwahl an Zeiten erinnert, da unser Handeln bestimmt war von äusserem Druck und einer überlegenen, besserwissenden Instanz. In der Schule, bei der Arbeit, oft aber auch noch in Familien lagen die «mahnenden» Imperative in den Händen hierarchisch überlegener Autoritäten, denen wir – nicht verwunderlich – unwillig, ja verachtend begegneten. Heute ist es – zumindest in unserer Welt – zum Glück selbstverständlich, dass wir dominanter Rede und Besserwissertum kritisch begegnen und der eigenen Sichtweise mehr Gewicht geben, um unser Leben zu gestalten und die Welt zu verstehen.
Doch als würde dieser strenge Ton aus früheren Zeiten nachhallen, kennen wir diese innere Stimme, die uns manchmal lieblos mit dem Zeigefinger ermahnt und von oben herab unter Druck setzt. Auch wenn es nur kleine Dinge sind, neigen wir dazu, Termine und Verpflichtungen unwillig vor uns herzuschieben – im Bewusstsein, dass wir dadurch nicht freier werden. Aus dieser Perspektive lese ich plötzlich auch den heutigen Vers anders: Verstehen wir die «Unterweisung durch den Herrn» als einen inspirierten, weisen inneren Dialog, in dem wir uns liebevoll unseren Widerständen zuwenden und uns an den Früchten unseres Tuns freuen, folgt wie von selbst die Fortsetzung im anschliessenden Vers (Sprüche 3,12): «Denn darin zeigt sich die Liebe.»

Von: Esther Hürlimann