Paulus schreibt: Obwohl meine leibliche Schwäche
euch eine Anfechtung war, habt ihr mich nicht
verachtet oder vor mir ausgespuckt, sondern mich
wie einen Engel Gottes aufgenommen, ja wie
Christus Jesus.
Galater 4,14

Der Text berührt in seiner Menschlichkeit. Paulus tritt hier
als weitgereister Missionar und charismatisches Vorbild vor
seine Gemeinde, doch ist er für alle sichtbar gesundheitlich
angeschlagen. Er schämt sich dafür und wäre auch nicht
erstaunt, wenn das Publikum als Geste der Verachtung vor
ihm auf den Boden spucken würden. Aber nein, sie empfangen
ihn «wie einen Engel Gottes».
Wir könnten nun Paulus unterstellen, dass er diesen Vers
als rhetorischen Kniff einsetzt, um der Gemeinde zu schmeicheln.
So im Sinne von: «Ihr seid ganz tolle Leute, weil ihr
mich nicht an meinem gebrechlichen Zustand, sondern
an meiner Botschaft messt.» Doch auch diese Sichtweise
berührt, denn stellen wir uns Paulus vor, den bewanderten
und gebildeten Apostel, der sehr wohl um sein Charisma
weiss, mit dem er zahlreiche christliche Gemeinden gründete
und Menschen bekehrte: Wie er sich zu seiner eigenen
Fragilität bekennt und seinen Zuhörerinnen und Zuhörern
für ihre Reaktion dankbar ist, führt mich zu einer mir kostbarsten
Essenz unserer christlichen Wurzeln: nämlich mich
täglich so anzunehmen, wie ich bin, und mich auch in meiner
Unvollkommenheit wertzuschätzen. Umgekehrt aber auch
den Mut aufzubringen, für die eigenen Blessuren einzustehen
und darauf zu vertrauen, dass es Menschen gibt, die
mich «wie einen Engel Gottes» aufnehmen.

Von: Esther Hürlimann