Ich habe mein Herz vor dem HERRN ausgeschüttet. 1. Samuel 1,15
Diese Worte sagt Hanna zu Eli. Er hält sie nämlich für betrunken.
Denn er sieht nur, wie sich ihre Lippen bewegen, ihre
Stimme aber hört er nicht. Er fordert sie auf, nüchtern zu
werden. Da erklärt ihm Hanna: «Ich bin eine verzweifelte
Frau. Und ich habe weder Wein noch Bier getrunken, ich
habe mein Herz vor dem HERRN ausgeschüttet.»
Hanna, die sich so sehr ein Kind wünscht. Oder irgendeine
andere Frau mit demselben Wunsch. Sie schüttet uns ihr
Herz aus. Ein ganzes Meer von Betrübnis liegt da. Wie schnell
kommt eine Antwort über unsere Lippen. Wie schnell haben
wir einen Lappen zur Hand, um die Wasserlache wegzuputzen.
Weil wir die Verzweiflung nicht verstehen. Nicht verstehen
wollen. Nicht aushalten können.
Und dann sagt diese oder jene andere Frau zu mir, dreissig
Jahre später, wie schwierig es sei, nie Grossmutter zu werden.
An die Kinderlosigkeit habe sie sich irgendwann gewöhnt.
Doch die Enkellosigkeit sei ein neuer Schmerz. Ich höre, wie
die neue Verzweiflung sich mit der alten vermischt. Ein ganzes
Meer von Betrübnis liegt da. Ich könnte ihr jetzt doch
von Hanna erzählen. Wie deren Klage sich in Lob verwandelt.
Dass Gott schon weiss, was richtig ist. Nein. Ich lasse den
Lappen fallen. Und glaube der Frau. Es braucht nicht immer
eine Antwort. Weil es nicht immer eine gibt.
Von: Ruth Näf Bernhard