Der Zöllner stand ferne, wollte auch die Augen nicht
aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust
und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
Lukas 18,13

Der Lehrtext ruft mir zugleich die Geschichte von Zachäus
(Lukas 19) in Erinnerung. Beide Male sind diejenigen Vorbilder,
die «Gutmenschen» als Systemfeinde gelten! Sie, die
Beamten eines Systems, dem der Shalom Gottes, Gerechtigkeit,
Friede und Schöpfungspflege, um der eigenen Macht
willen egal ist! Sie, die Übergewinne einstreichen, moralisch
verwerflich handeln, ausgerechnet sie, die «Zöllner»,
sollen Vorbild sein? Auch ich kenne Zöllner (Lobbyisten,
politische Gegner). Im Lehrtext rufen diese Abgestempelten:
«Gott sei mir Sünder gnädig!» Sie erkennen, dass sie
in all ihrem Tun doch die Gnade Gottes benötigen. Die
Geschichte ist eine Umkehrung des sozioreligiösen Wertekanons.
Die weit unten Angesiedelten scheinen Gott ganz
nah. Der Abgestempelte, heisst es weiter, geht gerechtfertigt
nach Hause
. Wer ist also mit seinem Leben Gott näher? Die
stets auf der richtigen Seite zu sein meinen oder die, deren
Handeln eine Trennung von Gott bewirkt, die aber diesen
«Sund» erkennen? Die Nähe hängt von unserer Beziehung
zu Gott ab. Stehen wir vor Gott als gottgefällige Rechtgläubige?
Oder wagen wir es, unsere Fehler und Ambivalenzen
einzugestehen? Der Schritt auf Gott zu, in: «Sei mir Sünder
gnädig», ist ein erster Schritt des Weges auf Gottes neue
Sozialordnung zu. Auf dem Pfad der Gnade, die Gott uns
Fehlerhaften widerfahren lässt.

Von: Gert Rüppel