Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen
und fröhlich sein unser Leben lang. Psalm 90,14
«Fülle uns frühe», heisst es in der Lutherbibel mit schöner
Alliteration. Die genaue Übersetzung lautet: «Sättige uns
am Morgen.» Hier wird der Bezug zu Vers 6 im selben Psalm
deutlich: «Am Morgen blüht das Gras, doch es vergeht, am
Abend welkt es und verdorrt.» Der Morgen gehört dort
zur Vergänglichkeit, die als schwermütiger Grundton den 90. Psalm durchzieht. Doch hier, im 14. Vers, der heutigen
Losung, ändert sich die Metaphorik des Morgens. Er ist, wie
auch sonst oft in der Bibel, die Zeit Gottes: «All Morgen ist
ganz frisch und neu des Ew’gen Gnad und grosse Treu; sie
hat kein End den langen Tag», heisst es in einem Morgenlied.
«Unser Leben lang» lautet genau übersetzt «all unsere
Tage». Der Basler Alttestamentler Klaus Seybold (1936–2011)
vermutet, dass ursprünglich an einen Frühgottesdienst
gedacht war, der den ganzen Tag über seelisch nährt.
Tatsächlich ist dies die Überzeugung des Psalmbeters:
Die Gnade Gottes nährt. Es sind keine konkreten irdischen
Güter, um die er bittet, nicht Reichtum, nicht Macht, nicht
ein langes Leben. Nur die Zuneigung Gottes erbittet er, die
«Erfahrung Gottes selber» (A. Weiser). Sie sättigt uns, wie
das Manna in der Wüste, an diesem Tag. Und alle Tage unseres
Lebens.
Von: Andreas Fischer