HERR, von Herzen verlangt mich nach dir des Nachts,
ja, mit meinem Geist suche ich dich am Morgen.

Jesaja 26,9

In der Zürcher Übersetzung lautet der Vers, treuer dem Originaltext
folgend: «Mit meiner Seele verlange ich nach dir in
der Nacht, ja ich suche nach dir mit meinem Geist in meinem
Innern.» Er gehört zu einem Jubellied, in dem Dankbarkeit,
Hoffnung und Vertrauen auf Gott in ausdrucksstarken Bildern
besungen werden (Kapitel 26). Unser Vers nun stimmt
einen anderen Ton an. Eine sehr persönliche, fast intime Szene
wird uns vor Augen gemalt: ein Mensch in der Dunkelheit der
Nacht, allein mit sich und seinen Gedanken, vielleicht unruhig
und verzagt, umgetrieben von Sorgen und Ängsten …
Was hilft, was rettet «im Dunkel unserer Nacht»?
Eine Patientin im Krankenhaus erzählt: «Verse und
Gedichte helfen mir, die alten Lieder, die ich mir still vorsage
…» Eine andere sagt: «Ich bete jeden Abend. Das beruhigt
mich.» Meine eigenen Versuche, das Dunkel mancher
Nächte zu bestehen, sind so ähnlich: Lieder, Psalmen, Beten:
«Mit meiner Seele verlange ich nach dir in der Nacht, ja ich
suche nach dir mit meinem Geist in meinem Innern.»
Wie die sehnsüchtige Suche des Beters/der Beterin gestillt
wird, bleibt offen. Vielleicht ist ja die inständige Suche, das
sich Ausrichten von Herz, Seele und Geist auf Gott, die
Ewige, den Weg. «So ihr mich von ganzem Herzen suchet,
so will ich mich finden lassen, spricht unser Gott», klingt es
im «Elias» von Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Von: Annegret Brauch