HERR, neige mein Herz zu deinen Zeugnissen
und nicht zur Habsucht.
Psalm 119,36

Welch eine Aufforderung in einer Welt, in der die Reichen
immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Ich
kann zwei Anliegen des Psalmschreibers erkennen: Zum
einen geht es darum, darüber nachzudenken, was meine
Beziehung zu Gott, der Lebendigen, ausmacht. Ist es die
Erfahrung von Gottes Zuwendung zu den Menschen in der
ganzen Schöpfung? Ist es das Ringen darum, diese Zuwendung
wahrnehmen zu können? Ist es die Frage, was ich
dazu beitragen kann, dass diese Beziehung lebendig ist?
Zum andern lese ich das Anliegen, dass diese Beziehung zur
Lebendigen mich stark macht, um mich für eine gerechtere
Verteilung der Güter dieser Erde einzusetzen. Denn es ist
meine feste Überzeugung, dass wir das tun sollen. Wie aber
gehe ich um mit der Ohnmacht, die unweigerlich in mir
aufsteigt, wenn ich lese und höre, wie Reichtum und Macht
oft den Menschen und seine Würde vernachlässigen, gar
einfach übersehen?
Der Psalmschreiber hat den längsten Psalm der Bibel
geschrieben, um immer wieder mit einer anderen Erfahrung
auf die Lebendige und die Beziehung zu ihr aufmerksam zu
machen. Das ist zwar noch kein Weg aus der Ohnmacht,
wohl aber einer, der mich nachdenken lässt und auch Wege
aufzeigt, wie ich mein Leben gestalten kann auf Gerechtigkeit
und eine lebendige Beziehung zur Lebendigen hin.

Von: Madeleine Strub-Jaccoud