Paulus schreibt: Richtet nicht vor der Zeit, bis
der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird,
was im Finstern verborgen ist, und das Trachten
der Herzen offenbar machen wird. Dann wird auch
einem jeden von Gott Lob zuteilwerden.
1. Korinther 4,5

Beim Lesen dieses Textes stolpere ich. Lese ich nur den ersten
Satz, so erwarte ich in der Folge, dass Schattenhaftes, Unliebsames
ans Tageslicht kommt. Lese ich dann den zweiten Satz,
ist das nicht so: Gutes wird offenbart und Gottes Lob wird
zugesagt. Ich muss gestehen, ich bin etwas verwirrt.
Der Akzent liegt offenbar auf der Mahnung, nicht vorschnell
zu richten, und ausserdem, dass richten nicht unsere
Aufgabe ist, sondern dass diese dem Herrn zukommt.
Das können wir uns zu Herzen nehmen. Es ist eine gültige
Lebensweisheit. Entsprechend wird der Text in der Regel
auch ausgelegt.
Lesen wir aber, dass Schattenhaftes und Unliebsames ans
Tageslicht kommen, dann sieht das ganz anders aus: Es ist
wichtig, dass wir, wenn wir eine nur gute Meinung von uns
haben, unseren Schatten erkennen lernen.
Dass wir lernen, uns anzunehmen mit unseren Beschränkungen
und unguten Seiten. Erst dann sind wir ganz, erst
dann lernen wir Bescheidenheit und Demut, erst dann überwinden
wir unsere Überheblichkeit. Wir müssen lernen, uns
selbst auszuhalten. Auf diesem Weg unterwegs, mag es uns
gelingen, andere nicht vorschnell zu richten.

Von: Kathrin Asper