Du nahtest dich zu mir, als ich dich anrief, und sprachst: Fürchte dich nicht! Klagelieder 3,57

Die Gastkolumne stammt von Werner Kramer. Er war Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich.
Wenn ich in der Bibel oder in den Bolderntexten lese, hoffe ich, dass sich der Sinn ihrer Worte mischt mit meinen eigenen Empfindungen und ich verändert in meinen Tag gehe. Manchmal verdanke ich den Menschen der Bibel Worte, um eigene Erfahrungen auszudrücken, oder Bilder, die Eigenes spiegeln.
Gerne würde ich das heutige Wort als eigene Erfahrung nachsprechen: «Du nahtest dich mir, als ich dich anrief.» Als ich betete, fühlte ich dich mir ganz nah, wie Wärme, die mich anstrahlt. Ein zutiefst glücklicher Moment.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich nicht selten beim Beten Gottes Nähe kaum spüre. Anderes schiesst mir durch den Kopf, oder ich schlafe ein. Oft muss ich mich schütteln und selber zu mir sagen: Fürchte dich nicht!
Manchmal fühle ich mich umgeben von Menschen, zu denen in der Bibel gesagt wird: «Fürchte dich nicht.» Da sind Hirten auf dem Feld, denen der Engel dies in der Weih- nachtsnacht zuruft, da ist der Täufling in der Kirche, dem die Pfarrerin den Taufspruch zuspricht: «Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.» In dieser Gesellschaft bin ich gerne.

Dass «Fürchte dich nicht!» auch in den wenig bekannten Klageliedern des Alten Testaments steht, wusste ich nicht, bis es mir als Losungswort zufiel. Und mit ihm die Situation des durch die Babylonier zerstörten Jerusalem und des Tempels.

«Ach, wie liegt sie einsam da, die Stadt, einst reich an Volk, nun einer Witwe gleich!» «Draussen raubt das Schwert die Kinder, im Haus ist es wie tot.» «Ach, wie färbt das Gold sich schwarz, die Steine des Heiligtums liegen herum an allen Strassenenden.» Tod, Zerstörung, Gefangenschaft, Ausrottung – die nie endende Geschichte des Krieges. Von der Zerstörung Jerusalems bis zu Mariupol in der Ostukraine, dem Erdboden gleich gemacht. Tote in den Strassen, Massengräber, die Zivilbevölkerung vertrieben oder deportiert.
«Wasser flutete über mein Haupt, ich sagte, ich bin vom Leben abgeschnitten.» Hört das denn nie auf? Bleiben uns nur Klagelieder?
«Ich rief deinen Namen, Herr, von tief unten aus der Grube.» Was nützt das? Nach der Erfahrung dessen, der das Klagelied anstimmte: «Am Tag, da ich dich rief, hast du dich genaht, du sprachst: Fürchte dich nicht.»
Ja: «Er kann, er will, er wird in Not, vom Tode selbst und durch den Tod uns zu dem Leben führen.»

Was sollte ich mich fürchten?

Von Werner Kramer