Schlagwort: Andreas Marti

1. Januar

Sage nicht: «Ich bin zu jung», sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Jeremia 1,7

Jeremia sah in seinem jugendlichen Alter einen Grund, nicht zu predigen, nicht von Gott zu sprechen. Und wir? Zu jung vielleicht nicht, aber zu diskret, zu zurückhaltend, gebremst von der Scheu, zu persönlich oder gar übergriffig zu werden. Entsprechend ist Religion, jedenfalls die eigene, aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Die Kirche hat die gesellschaftlichen und kulturellen Eliten verloren. Es gehört zum guten Ton, ausgetreten zu sein – darüber wird dann durchaus offen gesprochen.
«Predigen», wie bei Jeremia, hilft nicht. Von Gott reden geht nur im Gespräch mit dem modernen Weltbild und seinen Vorstellungen von Universum, Wissenschaft und Mensch. Diesem Weltbild möchte ich kein geschlossenes Programm christlicher Überzeugung entgegenstellen. Vielmehr geht es um eine Art Entsprechung zwischen der immer stärker in Erscheinung tretenden Unabgeschlossenheit des wissenschaftlichen Weltbildes und der fundamentalen Offenheit des Gottesbegriffs.
Religion kann eine Möglichkeit sein für den Umgang mit dem grundsätzlich nicht Erkennbaren, «Gott» ein fassbares Wort für das Unfassbare, das in der jüdischen und christlichen Geschichte konkrete und oft paradoxe Formulierungen gefunden hat.

Von: Andreas Marti

12. Dezember

Gott erhöht die Niedrigen und hilft den Betrübten
empor.
Hiob 5,11

Gestern hatten wir es zu tun mit Hiobs Protest gegen den
naiven Zusammenhang von Handeln und Ergehen. Heute
ruft uns der fromme Dulder Grundmuster biblischer Erzählungen
in Erinnerung: Joseph, von seinen Brüdern gemobbt,
der in höchste Funktionen am Hof des Pharao aufsteigt; der
Hirtenbub und spätere König David; das Mädchen Maria,
das zur Mutter des Messias auserlesen wird. In Marias Lobgesang,
dem Magnificat, singen Christinnen und Christen
immer wieder – in den Klöstern gar täglich – das Bekenntnis
zu dem Gott, der die Gesellschaftsordnung auf den Kopf
oder vielleicht eben vom Kopf auf die Füsse stellt.
Betrübnis hat Gründe. Es können schwierige persönliche
Verhältnisse sein, es kann Armut, Verfolgung, Missachtung
sein. Dass Gott daraus emporhilft, mag als billiger Trost
erscheinen. Mit einem mirakulösen Eingreifen aus dem Himmel
rechnet in unserer säkularen Welt ja wohl kaum jemand.
So ist es sinnvoller, diese Losung auch als Aufruf zu lesen, als
Aufruf, die Gründe für die Betrübnis in Gottes Auftrag und
im Vertrauen auf seinen heilsamen Willen zu beseitigen oder
doch zu lindern, im seelsorglichen, im diakonischen und – ja,
gerade auch das – im politischen Handeln.

Von: Andreas Marti

11. Dezember

Das Warten der Gerechten wird Freude werden.
Sprüche 10,28

Wer gerecht ist und Gutes tut, dem geht es gut. Dieser
Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen wird in den
«weisheitlichen» Schriften des Alten Testaments häufig ausgesprochen.
Nicht nur uns Heutigen erscheint das Prinzip
aber zu vordergründig, zu naiv, von der Erfahrung allzu oft
nicht gedeckt, gar ins Gegenteil verkehrt. Schon biblische
Autoren erheben dagegen Einspruch. In manchen Psalmen
und vor allem im Buch Hiob kommt die Gegenerfahrung
in aller Schärfe zum Zug. Hiob, der Gerechte, hatte ja nun
wahrlich keinen Grund zur Freude, konnte nicht verstehen,
was ihm widerfuhr, und klagte Gott an. Immerhin: Auch
wenn der Schluss des Buchs – die Wiederherstellung des
frommen Dulders – vielleicht nachträglich angefügt wurde,
könnte Hiob doch noch als Beleg für die heutige Losung
herhalten: Nach langem Warten fand er sein Glück wieder.
Nach langem Warten fand er sein Glück wieder. Allerdings
wird die Gegenerfahrung damit auch wieder verharmlost:
Nicht jedes Warten endet in erfahrener Freude.
So bleibt denn, wie so oft, die Hoffnung wider den Anschein,
wider die Erfahrung, wider eine realistische Erwartung, dass
am Ende alles gut sein wird.
Diese Hoffnung mag dem Verstand widersinnig erscheinen,
aber sie befreit aus der Lähmung und macht gutes,
gerechtes Handeln überhaupt erst sinnvoll und möglich.

Von: Andreas Marti

12. Oktober

Das ist’s, was der HERR gesagt hat: Ich erzeige mich heilig an denen, die mir nahe sind, und vor allem Volk erweise ich mich herrlich. 3. Mose 10,3

Dieser Gottesspruch steht in einer ziemlich sonderbaren Geschichte aus der Wüstenzeit des Volkes Israel: Die Söhne Aarons haben ein von Gott nicht gebotenes Rauchopfer dargebracht. Gut gemeint, aber offensichtlich danebengegangen. Gottes Kommentar ist deutlich: Heiligkeit kann nicht durch Menschenwillen gemacht werden. Sie ist – als Gegenwart von Gottes Macht und Herrlichkeit – nur auf seinen Entscheid hin, nur in der Übereinstimmung des menschlichen Handelns mit seinem Willen möglich.
Der Kontext mag befremdlich sein. Aber wir können vermuten, was die Argumentation des Erzählers war, als er Ausspruch und Erzählung zusammenfügte. Es geht bei Gottes Heiligkeit nicht um unbegreifliche, mirakulöse Erscheinungen aus einer Überwelt. Wir können sie verstehen als das Miteinander von Gottes Gegenwart und gleichzeitig seiner
Unerreichbarkeit. Darum ist sie da, wo Menschen «heilig» sind in dem Sinne, dass sie in Verbindung mit diesem zugleich gegenwärtigen und unerreichbaren Gott stehen und sich von seinem Willen leiten lassen. So machen sie seine Heiligkeit und Herrlichkeit vor den Menschen, «vor allem Volk» sichtbar und wirksam.

Von: Andreas Marti

11. Oktober

Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte.
Psalm 130,4

«Pardonner, c’est son métier», hat der Spötter Voltaire über Gott gesagt. Göttliche Vergebung ist also eine Selbstverständlichkeit? Und gilt sie wirklich für alle? Uns fallen wohl einige Namen ein, bei denen uns diese Vorstellung etwas Mühe bereitet. Eine «Allversöhnung» kann unserem Gerechtigkeitsempfinden im Extremfall durchaus zuwiderlaufen. Aber andererseits widerspricht auch die Theorie eines «Jüngsten Gerichts» der Vorstellung vom barmherzigen Gott und von der Erlösung durch das Werk Christi. Wir erinnern uns an den Streit um die Formulierung im römischen Kanongebet: Hat Jesus sein Blut gegeben «für alle» oder «für viele» (was hier wohl ein Problem der Übersetzung aus dem Griechischen ist)?
Versuchen wir darum, den Satz mit anderer Betonung zu lesen, mit Akzent auf «bei dir». Vergebung ist allein Gottes Sache, das können wir ihm allein überlassen. Das schwierige Wort «fürchten» kann dann etwa heissen «respektieren, anerkennen». In diesem Kontext bedeutet es, Gott die
Vergebung anheimzustellen und nicht mit unserer menschlichen Logik danach zu fragen. So, wie es umgekehrt ja auch heisst: «Mein ist die Rache, spricht Gott.»
Es gibt offensichtlich Fragen, die wir sinnvollerweise gar nicht erst stellen, wenn wir nicht in unlösbare Dilemmata laufen wollen. «Gottesfurcht ist der Weisheit Anfang», und Weisheit besteht manchmal darin, nicht alles wissen zu können.

Von: Andreas Marti

12. August

HERR, ich warte auf dein Heil. Psalm 119,166

Im biblischen und kirchlichen Sprachgebrauch ist das «Heil»
ein Allerweltswort, eine Formel für alles, was wir von Gott
erwarten, bis hin zu einem endzeitlichen «Alles ist gut».
Im hebräischen Text steht an dieser Stelle das Wort
«Jeschu’a». Das wird wörtlich meist eher übersetzt mit
«Hilfe». Zugleich ist es auch die hebräische Form des
Namens «Jesus».
Eine naive Auffassung vom Verhältnis von Neuem und
Altem Testament könnte nun behaupten, der Psalmsänger
(oder könnte es eine Psalmsängerin gewesen sein?) lebe
in Erwartung des Messias mit dem Namen Jesus, habe ihn
irgendwie vorausgesehen. Freilich greifen die Evangelisten
immer wieder auf die hebräische Tradition zurück. Das hilft
ihnen und ihren Zeitgenossen, das Leben und den Tod Jesu
und was sie danach als seine Auferstehung erfahren haben,
zu deuten und zu verstehen.
Der Psalmtext ist aber erst einmal aus sich heraus zu verstehen.
Sein Sinn muss keineswegs in einer zeitlichen, einer
zukünftigen Dimension liegen. Mit dem Psalmsänger (oder
eben der Sängerin) erwarten wir das «Heil», erwarten wir
Hilfe, das Gute in unserem Leben von Gott. Oder vorsichtiger:
Wir erfahren und wissen, dass wir uns dieses Gute
nicht selber verschaffen können, dass es uns geschenkt wird,
unverfügbar, unbegreiflich. Und wir wagen es, dieses Unverfügbare
«Gott» zu nennen.

Von: Andreas Marti

11. August

Ich werde mich an euch als heilig erweisen vor den
Augen der Völker. Und ihr werdet erfahren, dass ich
der HERR bin, wenn ich euch ins Land Israels bringe,
in das Land, über das ich meine Hand erhob zu dem
Schwur, es euren Vätern zu geben.
Hesekiel 20,41–42

Das auserwählte Volk, das verheissene Land – darüber auf
dem Hintergrund des Konflikts in Israel und Palästina zu
schreiben, ist eine unmögliche Aufgabe. Mit jedem Satz
droht entweder der Vorwurf des Antisemitismus oder des
westlichen Kolonialismus. Aber die Aufgabe ist gestellt, das
Alte Testament zu lesen und für heute zur verstehen.
Zwei Deutungen sind zu meiden: Aus christlicher Sicht
ist es das Schema, gemäss dem die Relevanz des Alten Testaments
darin liege, dass das Neue dessen Verheissungen
erfülle. Aus jüdischer Sicht ist es die Inanspruchnahme für
die politische Realität des Staates Israel, dessen Existenzrecht
nicht zu bestreiten, aber auch nicht mit dem Alten Testament
zu beweisen ist.
Dieses erzählt von Menschen, die Rettung von einem Gott
erfahren, den sie als den ihrigen verstehen. Das ging, etwa
im Josua- und im Richterbuch, häufig auf Kosten anderer
Menschen. Aber die Bibel selbst korrigiert: Gott ist nicht
ein Stammesgott, sondern Schöpfer der ganzen Welt, und
er wird in Christus das Heil aller Völker. Das Heil der einen
geht nicht auf Kosten des Unheils anderer. Gottes Heiligkeit
erweist sich vor den Augen und im Leben der Völker, im
Frieden, in der Würde aller Menschen.

Von: Andreas Marti

12. Juni

Du hast den Menschen zum Herrn gemacht über deiner
Hände Werk, alles hast du unter seine Füsse getan.

Psalm 8,7

Die Vorstellung, dass der Mensch Herr über die Natur sei,
ist angesichts von Ausbeutung und Naturzerstörung mehr
als fragwürdig geworden. Auf den ersten Blick müssten wir
diesen Psalmvers umweltgerecht «entsorgen».
Der reformierte Theologe Wilhelm Vischer hat Psalm 8
zu einem Lied umgedichtet und dabei die Richtung gezeigt,
wie diese Worte zu verstehen sind. Es ist das Psalmlied «Wie
herrlich gibst du, Herr, dich zu erkennen» (RG 7, EG 271).
Schlüsselvers ist die dritte Zeile von Strophe 6: «Statt
Herr ist er der Sklave der Natur.» Das lässt an die altbekannte
Dialektik von Herr und Knecht denken, in welcher
der Herr abhängig vom Knecht wird. Die Geschichte zeigt
es ja: Je mehr die Menschheit sich die Natur unterwirft und
zu Diensten macht, desto verletzlicher werden Zivilisationen
und Technologien.
Vischers Lied denkt in den Schlussstrophen den Psalm
christologisch weiter, mit Worten des Christushymnus aus
dem Philipperbrief. Christus ist der «wahre Menschensohn
», der sich selbst bis in den Tod erniedrigt, das Bild des
Menschen nach Gottes Willen. Seine Herrschaft ist nicht
die überlegene Dominanz der Allmacht. Sie geschieht in
Geschwisterlichkeit, in Solidarität mit den Leidenden. Christus
nachfolgen heisst, seine Weise der Herrschaft zu übernehmen,
«zur Ehre des Vaters».

Von: Andreas Marti

11. Juni

Die zum Frieden raten, haben Freude. Sprüche 12,20

Wieder so ein Satz, welcher dermassen selbstverständlich
daherkommt, dass ich mir dazu zunächst kaum Gedanken
machen kann. Eine Kalenderblattweisheit, irgendwie banal.
Dass die «weisheitliche» Literatur in einigen alttestamentlichen
Büchern nicht gerade den Ruf grossen theologischen
Tiefsinns geniesst, ist mir ja manchmal in den Kommentaren
begegnet und kommt mir hier wieder in den Sinn.
Der Haken liegt eben beim deutschen Wort «Frieden».
Vordergründig fällt mir bei «zum Frieden raten» etwa ein:
Lasst das Streiten, haltet still, tragt eure Konflikte nicht aus.
Dagegen steht nun aber der Grundsatz «kein Frieden ohne
Gerechtigkeit», und Gerechtigkeit muss erstritten werden.
Frieden als Verzicht auf diesen Streit zementiert Ungerechtigkeit.
Darum ist «Frieden» nicht die Abwesenheit von
Streit und gar Krieg, sondern ist am hebräischen «Schalom»
zu messen. Dieser Frieden ist umfassend, er schliesst Wohlergehen
und gute, gerechte Verhältnisse mit ein, ist Frieden
in Gerechtigkeit. Wer zu diesem Frieden rät, und zwar nicht
nur dazu rät, sondern sich für seine Verwirklichung einsetzt,
wer zur Gerechtigkeit rät, wer raten und überlegen hilft,
wie Gerechtigkeit werden kann, der hat nicht nur Freude,
sondern macht Freude, macht die Welt ein bisschen besser.
Da pacem, Domine, in diebus nostris – Gib Frieden, Herr, in
unseren Tagen.

Von: Andreas Marti

1. Mai

Ich bin bei dir, spricht der HERR, dass ich dir helfe.
Jeremia 30,11

Jemand hilft mir, ich helfe jemandem – wobei denn? In der
Not? Bei einer Aufgabe? Bei der Arbeit?
Das wäre das heutige Stichwort, das Thema für den Tag
der Arbeit. Es ist ja kein kirchlicher Feiertag, er ist weltlich,
gehört der Arbeiterbewegung. Ist er deshalb automatisch
nicht christlich, gar antichristlich? Freilich gibt es in der
Geschichte viele, zu viele Beispiele, die die Kirche auf der
Gegenseite sehen, sozialistisch und christlich als Gegensätze.
Immerhin aber hat die Arbeiterbewegung unter ihren mancherlei
Wurzeln auch eine christliche. Das beginnt schon im 19. Jahrhundert, noch vor Karl Marx, und zu Beginn des 20.Jahrhunderts wurde ein «Religiöser Sozialismus» denkerisch und politisch entwickelt. Auch Karl Barth nahm hier
seinen theologischen Anfang, und die Reihe der Theologen
und Theologinnen, die diese Gedanken weiter ausbauten,
ist lang. Verwunderlich ist das nicht, vielmehr ist es begründet im
biblischen Menschenbild. Gott nimmt alle Menschen gleich
wichtig, er sagt allen gleichermassen seine Hilfe zu, er sagt sie
auch denen zu, die im Einsatz für eine gerechte Lebenswelt
und für Menschenwürde stehen.
Gott hilft helfen.

Von: Andreas Marti