Schlagwort: Andreas Marti

31. Oktober

Wie könnt ihr rechten mit mir? Ihr seid alle
von mir abgefallen, spricht der HERR.
Jeremia 2,29

Mit Gott rechten? Angesichts des vielen Leids und der offenkundigen Bosheit in der Welt kein so abwegiger Gedanke. Die Klage über die eigene Not und die Not der Welt kommt in der Bibel häufig vor, und wichtig ist dabei, dass Gott der Adressat der Klage sein darf. Nicht selten steigert sie sich zur Anklage: Gott wird der Prozess gemacht, weil er nicht eingreift, oder nicht so, wie wir uns das vorstellen –
«rechten» heisst das in unserem Prophetenspruch, und das kann durchaus eine Hilfe sein, kann die Last leichter machen, wenn sie bei Gott abgeladen werden kann. Aber nun kommt der zweite Satz. Gott dreht den Spiess um. Wir können nicht einfach alles auf ihn abschieben. Er nimmt uns in die Verantwortung hinein, er traut uns etwas zu, er mutet uns etwas zu. Allerdings kommen mir da viele engagierte Predigten in den Sinn: «Wir» zerstören die Natur, «wir» dulden oder verursachen Ungerechtigkeit, «wir» brauchen oder dulden Gewalt bis hin zum Krieg, «wir» müssen dies und jenes unternehmen. Das überfordert nur allzu leicht, es deprimiert und lähmt und funktioniert genauso wenig wie das Abschieben auf Gott im «Rechten». Es ist wie so oft in Glaubensfragen: Es gilt das eine, und es gilt das andere, nicht halb und halb, sondern beides ganz. Das gilt es auszuhalten; es ist nicht Alltagslogik, es ist die Logik des Glaubens, in welcher Unvereinbares zusammenkommt.

Von: Andreas Marti

2. September

Wer bin ich, Herr HERR, und was ist mein Haus,
dass du mich bis hierher gebracht hast?
2. Samuel 7,18

Mit diesen Worten reagiert der König David auf die Verheissung durch den Propheten Nathan, der seinem Haus eine grosse Zukunft ankündigt. Darin drückt sich der staunende Dank für den Verlauf des Lebens aus, für eine gute Situation und vor allem für eine lichtvolle Perspektive.
Können wir aber solche Worte nachsprechen, wenn der Weg schwierig war, die Lage nicht gut ist, die Perspektive düster, wenn das Hier und Jetzt die göttliche Führung nicht so ungebrochen erscheinen lässt? Berühmt-berüchtigt ist ja der Gefängnisgottesdienst in Carl Zuckmayers «Hauptmann von Köpenick», wo die Gefangenen singen müssen: «Bis hierher hat mich Gott gebracht.» Diese bissige Ironie zeigt, wie absurd es sein kann, Führung und Fügung zu verallgemeinern, sie zum Prinzip zu machen. Völlig unbrauchbar ist dieses Prinzip, wenn es Menschen trösten soll, denen es nicht gut geht. Solcher «Trost» macht alles noch schlimmer, macht Gott zum Feind. Vielleicht aber kann es dann und wann gelingen, im Blick auf das eigene Leben Führung zu erkennen, für die hellen wie für die dunklen Wegstrecken. Das kann man niemandem verordnen, auch nicht sich selbst. Doch wenn es gelingt, die eigene Lebenssituation als Ergebnis von Gottes Führung zu verstehen, sich in einem göttlichen Willen geborgen zu fühlen, ist dies ein Geschenk, eine geistliche Lebensqualität, die nicht zu erzwingen, nur zu empfangen ist.

Von: Andreas Marti

1. September

Haltet dem HERRN, eurem Gott, die Treue,
so wie ihr es bisher getan habt.
Josua 23,8

Kinder sind empfänglich für einen Glauben an Gott. Doch dieser Glaube übersteht die rationale Entwicklung zum Jugendalter häufig nicht. Erwachsene mögen an Gott glauben, doch ihr Glaube übersteht schlimme Erfahrungen häufig nicht. Die Treue zu halten, ist schwierig, wenn nicht nachhaltige Gottesvorstellungen vermittelt worden sind.
Die Treue wird in Frage gestellt durch die Kollision von wissenschaftlichem Weltbild und biblischer Vorstellung eines Schöpfergottes, dies auch dann, wenn man die Schöpfungsberichte nicht wörtlich nimmt.
Die Treue wird in Frage gestellt durch die Kollision der Vorstellung vom «lieben Gott» mit der gar nicht so lieben Realität, in der persönlichen Lebensgeschichte und in Unrecht, Hunger und Krieg auf der Welt.
Ich höre häufig in Predigten Aufrufe zum Glauben, Aufrufe, Gott die Treue zu halten. Diese Aufrufe gehen ins Leere, wenn keine Hilfe zum Umgang mit den genannten Kollisionen kommt. Die einfachsten Fragen sind bekanntlich die schwierigsten: Gibt es Gott? Ist Gott gut? Ist Gott allmächtig? Es ist eine unerlässliche Aufgabe für die Kirche, für die Predigerinnen und Prediger, für die Unterrichtenden und ebenso für alle Christinnen und Christen, sich auf schwierige Gespräche über Glauben und Nichtglauben einzulassen und die geforderte Treue überhaupt möglich zu machen.

Von: Andreas Marti

2. Juli

Der HERR ist hoch und sieht auf den Niedrigen
und kennt den Stolzen von ferne.
Psalm 138,6

Der Höchste, der Erhabene, der Allmächtige, «Grosser Gott» –
solche Gottesbezeichnungen sind oft kritisiert worden
als «Majestätsparadigma», das die hierarchischen Gesellschaftsordnungen
religiös überhöht und legitimiert. Wer
aber bei den Wörtern stehenbleibt, hat nur die Hälfte der
biblischen Sprache aufgenommen. Gerade unser heutiges
Losungswort zeigt dies, weil es nach dem majestätischen
Einstieg ja noch weitergeht. Allein damit, dass Gott von hoch
oben auf die Niedrigen schaut, ist es nicht getan. Das Gefälle
von oben und unten, die hierarchische Grundvorstellung
wäre damit lediglich bestätigt. Der Schluss des Psalmverses
geht darum noch einen Schritt weiter. Wenn Gott den Stolzen
von ferne erkennt, meint das ja nicht, dass er ihn einfach
zur Kenntnis nimmt. Vielmehr denken wir hier an den Vers
aus dem Lobgesang der Maria, dem Magnificat: «Er stösst
die Gewaltigen vom Stuhl.» Auf diese Weise kann und soll
das «Majestätsparadigma» gelesen werden, als grundsätzliche
Kritik an menschlicher Majestät, als eine Quelle der
Zuversicht angesichts immer schamloserer Machtansprüche
von egomanischen Autokraten weltweit. Wenn wir Gott als
den Höchsten und Allmächtigen loben, bezeugen wir, dass
er über allen vergänglichen Möchtegernallmächtigen steht.
«Lasst uns lachen über Grössen, die keine sind», heisst es in
einem Studentenlied. Gott lacht mit uns.

Von: Andreas Marti

1. Juli

Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist
du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein
Teil.
Psalm 73,26

«Alles wird gut, bleib positiv, nur Mut.» Nein, es wird nicht
alles gut. Manchmal bei uns selbst, und noch unendlich viel
häufiger bei anderen Menschen sehen wir, dass es eben nicht
gut kommt, dass die Geschichte wirklich erst dann zu Ende
ist, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen
hat, wie Friedrich Dürrenmatt es in seiner Dramentheorie
zum Stück «Die Physiker» formuliert hat. Wenn Leib und
Seele verschmachten, ist vielleicht keine Rückkehr ins Glück
im Blickfeld, ist nichts mehr zu beschönigen. Für den Menschen,
der diese Psalmworte spricht, besteht der Trost nicht
in einer Hoffnung auf bessere Zeiten. Er hat aber etwas, das
ihm das schlimmste Unglück nicht nehmen kann. Gott ist
allezeit sein Teil, er gehört unverbrüchlich zu seinem Leben.
Er fragt nicht einmal nach dem Warum, vermeidet die quälende
und unbeantwortbare Frage, warum Gott denn das
Verschmachten zulässt. Er stellt dies nur eben fest, in einer
Art der Klage, die nur benennt, was die Situation ist. Kein
Hilferuf, keine Aussicht auf Rettung, eine Extremsituation, in
der nur eines bleibt, ein unzerstörbarer Kern der Existenz –
die Zugehörigkeit zu Gott, die alles, wirklich alles überdauert.

Von: Andreas Marti

2. Mai

Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.
Josua 1,5

Aus dem Anfang des Josuabuchs stammt dieser Satz. Er gibt
wieder, was Gott zu Josua sagte, als er ihm den Auftrag gab,
die Nachfolge von Mose anzutreten und das Volk Israel in
das versprochene Land zu führen. Dieses Volk ist bekanntlich
eher störrisch, nicht leicht zu führen, und das Land ist ja
keineswegs unbewohnt – es droht Streit mit den ansässigen
Stämmen. Keine leichte Aufgabe also, und Josua mag sehr
wohl erhebliche Bedenken gehabt haben, auch wenn davon
in dieser Erzählung nicht die Rede ist. Da hat es solch einen
Zuspruch schon gebraucht: als Ermutigung zur Übernahme
dieser Aufgabe.
Und so können wir ihn immer noch lesen: als Ermutigung
zur Nachfolge, zur Übernahme dessen, was uns aufgetragen
ist, und dies auch, wenn Widerstand zu erwarten ist.
Unsere Aufgabe ist zum Glück nicht die Eroberung eines
Landes, vielleicht aber die Eroberung der Herzen, damit wir
das Land, die menschliche Gesellschaft für Gottes guten
Willen gewinnen. Vergleichbare «Berufungsszenen» finden
wir recht zahlreich in der Bibel, so etwa in der Geschichte
vom Fischzug (Lukas 5): Ein scheinbar sinnloses Unterfangen,
nach einer erfolglosen Nacht, in gefährlichem Terrain, dort,
wo es tief ist, bringt Erfolg. Simon Petrus und seine Begleiter
haben es auf das Wort Jesu gewagt, und zum Ende der
Geschichte sagt Jesus sein «Fürchte dich nicht».

Von: Andreas Marti

1. Mai

All sein Tun ist Wahrheit, und seine Wege sind recht,
und wer stolz einherschreitet, den kann er demütigen.

Daniel 4,34

Meist steht im Hebräischen für «Wahrheit» ein Wort, das
auch Treue oder Zuverlässigkeit bedeutet, speziell diejenige
Gottes gegenüber den Menschen – hier steht ein seltener
gebrauchtes. Es benennt, was richtig, sauber, in Ordnung
ist, und zwar gesprochen von König Nebukadnezar. Es ist
damit mindestens so sehr politisch wie religiös zu verstehen
und geht unsere Zeit direkt an. Die Politik wird zunehmend
dominiert vom Widerstreit zwischen Fakten und Fakes, zwischen
Wahrhaftigkeit und Lüge. Dabei werden schamlose
Lügen als «alternative Fakten» präsentiert.
Auf Lügen, auf Halbwahrheiten, auf dem Verschweigen
werden politische Programme gebaut, wird das Zusammenleben
vergiftet und werden auch bei uns Abstimmungskämpfe
geführt.
Anfang dieses Jahres haben Social-Media-Plattformen den
Faktencheck abgeschafft. Jetzt können Lügen noch dreister
verbreitet werden. Aber Gottes Tun ist Wahrheit, und wenn
wir seinem Willen folgen, ist Faktencheck Christenpflicht:
Protestieren gegen Fakes, gegen Diffamierungen, gegen
Lügen, auch wenn sie immer wieder daherkommen. Nicht
müde werden, zu sagen, was richtig, sauber, in Ordnung ist.
Man mag ja niemandem etwas Schlechtes wünschen, aber
wenn alle, die stolz mit ihren Lügen einherschreiten, durch
die Wahrheit gedemütigt würden …

Von: Andreas Marti

2. März

Der HERR erlöste sie, weil er sie liebte und
Erbarmen mit ihnen hatte. Er nahm sie auf
und trug sie allezeit von alters her.
Jesaja 63,9

Gott – eine Wirklichkeit ausserhalb unseres Denkens in Raum und Zeit und Kausalität, ausserhalb unserer Erkenntnisstrukturen: Darauf hat uns die gestrige Losung hingewiesen. Aber was wäre für uns Gott, der völlig ausserhalb unserer Wirklichkeit, unserer Existenz steht? Er ginge uns nichts an, er wäre bedeutungslos für unser Dasein.
Die biblischen Geschichten sehen das anders. Sie erzählen uns auf mancherlei Weise von Erfahrungen, die Menschen mit dieser ausserhalb unserer selbst liegenden Wirklichkeit gemacht haben: Sie sprechen von Gott unter dem Vorzeichen von Liebe und Erbarmen. Diese uns nicht zugängliche Wirklichkeit ist uns wohlgesinnt, ist keine dunkle, bedrohliche Macht. In der Geschichte der Religionen ist mit einer ins Bedrohliche verfälschten Gottesvorstellung viel Schindluder getrieben, viel Unheil angerichtet worden. Religion ist nicht per se gut und hilfreich. Das ist sie nur unter dem Vorzeichen von Liebe und Erbarmen. Dieses Vorzeichen bedeutet viel mehr als eine allgemeine gute Atmosphäre. Es hat sich zu bewähren, wo gutes Leben bedroht ist. Das sagt der Schluss unserer Losung: Gott hat die Menschen durch Dunkelheit getragen – von alters her, und auch für uns gilt das Versprechen.

Von: Andreas Marti

1. März

Denkt an den Anfang, an das, was schon immer war:
Ich bin Gott und keiner sonst, ich bin Gott, und
meinesgleichen gibt es nicht.
Jesaja 46,9

Ein Anfang, vor dem nichts war, bevor es noch die Zeit überhaupt gab – die scholastische Theologie sprach von der «prima causa», der ersten Ursache, die selbst keine Ursache hat, und sie bezeichnete Gott als diese erste Ursache. Gott ist eine Wirklichkeit ausserhalb der Kausalität, ausserhalb der Zeit. Interessanterweise ergibt sich da eine Brücke zur modernen Wissenschaft: Zeit ist nichts Absolutes; von Zeit zu sprechen ausserhalb des Beginns von Raum und Zeit in einem hypothetischen Urknall, ist sinnlos, und die Quantenphysik ihrerseits hat die universelle Gültigkeit einer strikten Kausalität zumindest ins Wanken gebracht.
Wohlgemerkt: Das ist kein Gottesbeweis. Aber es ist keineswegs unvernünftig, eine Wirklichkeit zu denken, die jenseits unserer Vorstellung von Raum und Zeit ist, jenseits von Kausalitätsketten. Im Gegenteil: Eine auch gegenüber sich selbst kritische Vernunft kennt ihre Grenzen, weiss, dass sie in die menschlichen Erkenntnisbedingungen wie in einen Zirkel eingeschlossen ist. Religiöse Erkenntnis soll keineswegs die Lückenbüsserin für diese Begrenztheit sein, aber sie hält sie im Bewusstsein, und sie kann hilfreiche und weniger hilfreiche Formen annehmen – aber da würde jetzt die Aufgabe der Religionskritik anfangen …

Von: Andreas Marti

2. Januar

Menschenfurcht bringt zu Fall; wer sich aber
auf den HERRN verlässt, wird beschützt.
Sprüche 29,25

Gründe, sich vor Menschen zu fürchten, gibt es viele: im persönlichen Raum, wo Beziehungen entgleisen, im Beruf, wo Konkurrenz statt Vertrauen herrscht, in der Gesellschaft, die zunehmend die gemeinsamen Werte und Gesprächsgrundlagen verliert, in der Politik, die vor den kleinen und grossen Problemen immer wieder hilflos dasteht. Sich dieser Furcht zu überlassen, ist verheerend; sie bringt uns zu Fall. Psychologen kennen dieses Leiden und bieten Ratschläge und Hilfen an. Das kann klappen. Vielleicht klappt aber auch das Wissen, dass menschliche Realität nicht die absolute, letztgültige und umfassende Realität ist, auch wenn die direkte Erfahrung dadurch zunächst nicht verändert wird und als Ursache von Furcht bestehen bleibt.
Dennoch ist die Relativierung nicht falsch; sie kann den Tunnelblick aufbrechen, den gelähmten Atem befreien. Die Sprache und die Anschauungsformen des Glaubens machen ein Angebot zu dieser Relativierung. Da setzen wir «den Herrn» über alles, was Menschen zugänglich und –
im Guten und im Schlechten – möglich ist. Viele Sätze aus den Psalmen oder sonst aus der Bibel leihen uns die Sprache dazu, geben uns Zugang zu dem Schutz, der in der Losung genannt ist, zu «Resilienz», wie das heute etwa heissen mag.

Von: Andreas Marti