Autor: Annegret Brauch

13. September

Auf Gott hoffe ich und fürchte mich nicht;
was können mir Menschen tun?
Psalm 56,12

Die Zürcher Bibel übersetzt dem Urtext gemässer und, wie ich finde, kraftvoller: «Auf Gott vertraue ich, und ich fürchte mich nicht. Was kann ein Mensch mir tun?» Ich versuche, den Satz nachzusprechen, ihm nachzuspüren … Es fühlt sich gut an: stark, frei, aufrecht, unerschrocken, selbstgewiss. Wäre ich das – im Fall?
Ich denke an Menschen, auf die dieser Satz nach meinem Empfinden zutrifft: die Witwe aus dem Lukasevangelium, die mutig und beharrlich vor Gericht ihr Recht einfordert (Lukas 18), oder Petrus und die anderen, die unerschrocken dem Hohen Rat entgegnen: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen» (Apostelgeschichte 5); oder Martin Luther und sein «Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir!». Dietrich Bonhoeffer kommt mir in den Sinn und sein gleichermassen von Selbstzweifeln und Vertrauen geprägtes Gedicht «Wer bin ich». Ich denke an die vor wenigen Wochen verstorbene Margot Friedländer, Überlebende der Shoa, die im hohen Alter nach Berlin zurückgekehrt war und sich unermüdlich für Versöhnung und gegen Hass, Feindschaft und Unmenschlichkeit eingesetzt hat. «Seid Menschen!» lautet ihre Botschaft – so einfach, und so herausfordernd.
Gottvertrauen macht mutig und frei. Es befreit von der Sorge um mich selbst; es lehrt mich den aufrechten Gang und den unerschrockenen Blick – beides täglich zu üben.

Von: Annegret Brauch

12. September

Fürchte dich nicht vor plötzlichem Schrecken;
denn der HERR ist deine Zuversicht.
Sprüche 3,25.26

Wie sieht gute Lebensführung aus? Wie gelingt ein Leben, das Wohlergehen, Zufriedenheit und Weisheit verspricht? Und was kann ich selber dazu tun? Solche und ähnliche Fragen bilden den Hintergrund des Buchs der Sprüche. Es will Einsichten und Regeln vermitteln, die helfen, ein gutes Leben zu führen; modern gesprochen: eine Art Lebensratgeber. Dabei geht es davon aus, dass eine Lebensführung, die sich von Gerechtigkeit und Rücksichtnahme leiten lässt, zum Wohlergehen des/der Einzelnen wie der Gemeinschaft beiträgt. In meinen Ohren klingt das erstaunlich aktuell und zukunftsweisend – und wird gleichzeitig tagtäglich vielfach und in einem Ausmass hintertrieben, dass es mir manchmal den Atem nimmt und ich mich fassungslos frage: Wo wird das alles hinführen? – Erschrecken, Wut, Ohnmacht drohen mir Hoffnung und Zuversicht zu rauben.
Die heutige Losung stellt dem Schrecken Gottvertrauen und Zuversicht entgegen: «Fürchte dich nicht vor plötzlichem Schrecken; denn der HERR ist deine Zuversicht.» Sie durchbricht die Verzagtheit meiner Gedanken, sie erinnert mich daran, dass ich gehalten bin von der Ewigen auch im grössten Schrecken.
«Nada te turbe, nada te espante … Solo Dios basta.»
«Nichts soll dich verwirren, nichts soll dich beirren … Gott nur besteht.» (Teresa von Avila)

Von: Annegret Brauch

13. Juli

HERR, von Herzen verlangt mich nach dir des Nachts,
ja, mit meinem Geist suche ich dich am Morgen.

Jesaja 26,9

In der Zürcher Übersetzung lautet der Vers, treuer dem Originaltext
folgend: «Mit meiner Seele verlange ich nach dir in
der Nacht, ja ich suche nach dir mit meinem Geist in meinem
Innern.» Er gehört zu einem Jubellied, in dem Dankbarkeit,
Hoffnung und Vertrauen auf Gott in ausdrucksstarken Bildern
besungen werden (Kapitel 26). Unser Vers nun stimmt
einen anderen Ton an. Eine sehr persönliche, fast intime Szene
wird uns vor Augen gemalt: ein Mensch in der Dunkelheit der
Nacht, allein mit sich und seinen Gedanken, vielleicht unruhig
und verzagt, umgetrieben von Sorgen und Ängsten …
Was hilft, was rettet «im Dunkel unserer Nacht»?
Eine Patientin im Krankenhaus erzählt: «Verse und
Gedichte helfen mir, die alten Lieder, die ich mir still vorsage
…» Eine andere sagt: «Ich bete jeden Abend. Das beruhigt
mich.» Meine eigenen Versuche, das Dunkel mancher
Nächte zu bestehen, sind so ähnlich: Lieder, Psalmen, Beten:
«Mit meiner Seele verlange ich nach dir in der Nacht, ja ich
suche nach dir mit meinem Geist in meinem Innern.»
Wie die sehnsüchtige Suche des Beters/der Beterin gestillt
wird, bleibt offen. Vielleicht ist ja die inständige Suche, das
sich Ausrichten von Herz, Seele und Geist auf Gott, die
Ewige, den Weg. «So ihr mich von ganzem Herzen suchet,
so will ich mich finden lassen, spricht unser Gott», klingt es
im «Elias» von Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Von: Annegret Brauch

12. Juli

Jetzt ist sie da, die ersehnte Zeit,
jetzt ist er da, der Tag der Rettung.
2. Korinther 6,2

Bedenkt man die Streitigkeiten, die damals in der Gemeinde
in Korinth ausgefochten wurden, und die Anfeindungen, die
Paulus von seinen Gegnern ertragen musste, dann ist das ein
erstaunliches Wort: «Jetzt ist sie da, die ersehnte Zeit, jetzt
ist er da, der Tag der Rettung.» Paulus unterstreicht damit,
was er zuvor über die verändernde, weltbewegende Kraft
der Versöhnung geschrieben hat, die mit und in Christus
in die Welt gekommen ist: «Ist jemand in Christus, so ist
er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues
ist geworden.» (Vers 17) Gott hat durch und in Christus
«das Wort von der Versöhnung» unter uns aufgerichtet
(Vers 19). Damit ist die Welt, wie wir sie kennen, sozusagen
auf den Kopf gestellt – oder auf neue Füsse. (vgl. Vers 21) Die
Botschaft von der Versöhnung ist – mit einem Begriff aus
der Organisationsberatung – eine «paradoxe Intervention»
Gottes. Sie stellt die Mechanismen, Regeln und Gesetzmässigkeiten
von Erfolg, Einfluss und Macht auf den Kopf, führt
sie ad absurdum. Sie zeigt: Nicht im «immer mehr vom
Gleichen» (mehr Waffen, mehr Quote, mehr Erregung und
Aufmerksamkeit usw.) liegt die Lösung für die Welt und ihre
Rettung, sondern in der paradoxen, schwierigen, fröhlichen,
beharrlichen Arbeit an der Versöhnung als Botschafter:innen
an Christi Statt (Vers 20). Wo das geschieht, wie klein
und unscheinbar auch immer, «ist sie da, die ersehnte Zeit».

Von: Annegret Brauch

13. Mai

Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen
im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in
seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat,
und kauft den Acker.
Matthäus 13,44

Jedes der sieben Gleichnisse über das Himmelreich, die Matthäus
in der sogenannten Gleichnisrede im 13. Kapitel seines
Evangeliums überliefert, zeigt einen anderen Aspekt,
wie Gottes Macht erkennbar ist und wirkt. Bei diesem liegt
der Fokus darauf, dass ein Mensch überraschend und unerwartet
etwas Verborgenes entdeckt und dieses sogleich als
etwas Kostbares, Unvergleichliches, Einzigartiges erkennt.
Er wird sozusagen von diesem Fund so ergriffen, dass er
das, was bisher Bedeutung und Gewicht in seinem Leben
hatte, loslassen kann und will. Eine Freude ergreift ihn, die
alles in Bewegung bringt. Es scheint zunächst ein innerer
Prozess zu sein: Ein Mensch verändert sich und sein Tun.
Was sein Umfeld dazu meint, spielt keine Rolle; auch was
nach dem erfolgreichen Kauf geschieht, interessiert nicht.
Die Freude durchdringt und verwandelt, was bisher war,
zeigt neue Wege. Ein Mensch wurde gefunden und hat sich
finden lassen.
Mir gefällt an diesem Gleichnis, dass es meinen Aktivismus
erst einmal ausbremst. Wenn ich mein tägliches «Ackern»
anschaue, frage ich mich: Wie will, wie wird Gottes
dynamis (griechisch für: Macht, Kraft, Einfluss, Vermögen)
mich heute wohl finden? Ich bin gespannt …

Von: Annegret Brauch

12. Mai

Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,
so will ich mich von euch finden lassen, spricht
der HERR.
Jeremia 29,13–14

Die heutige Losung ist aus dem Brief Jeremias an die Deportierten
in Babylon herausgeschnitten. Ich empfehle, den ganzen
Brief zu lesen; denn er markiert eine Wende in der Verkündigung
des Propheten. Ging es in den Kapiteln davor um
die Folgen der Entfremdung des Volkes von seinem Gott, um
die Konsequenzen der Missachtung der göttlichen Rechtsordnungen
durch die Mächtigen in Israel und Juda, also um
«Gottes Gericht», geht es hier um Zukunft und Hoffnung.
«Denn ich weiss wohl, was ich für Gedanken über euch habe,
spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides,
dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.» (Vers 11) Gott
hat noch etwas vor mit seinem Volk. Vertreibung, Krieg und
Zerstörung haben nicht das letzte Wort, sie sind nicht das
Ende. Damals nicht – und auch heute nicht. Gott hat einen
anderen Plan: Frieden, Zukunft und Hoffnung. Und er bindet
seine Menschen auf zweifache Weise in seine Strategie ein:
«Suchet der Stadt (d. h. an eurem Ort) Bestes (Schalom)!»
(Vers 7) und «Sucht mich von ganzem Herzen, mit all eurer
Kraft!» (Verse 13 ff.). – Ja, es braucht den langen Atem, den
ganzen Mut, die sture Hoffnung und ein wagendes Vertrauen.
«Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht; es hat Hoffnung und
Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis,
Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.»

Von: Annegret Brauch

13. März

Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht. 1. Petrus 2,9

Angesprochen sind hier zuerst Gemeinden in Kleinasien; Menschen, die Christus nachfolgen, sich haben taufen lassen –
und die deshalb bedrängt und verfolgt werden. Ein riesiger Kontrast zu ihrer Alltagserfahrung! Aber der 1. Petrusbrief ist nichts für Sarkasmen oder Zyniker. Die Verfasser wissen um die Not und das Leiden der Geschwister im Glauben. Und sie tragen mit, stärken und unterstützen die Bedrängten, indem sie sie geistlich-seelisch aufrichten: «Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk …».
Das heisst nicht einfach: «Kopf hoch! Wird schon …» Die Bedrängten werden als die angeredet, die sie sind: Gottes Kinder, auserwählt, königlich, in Gottes Licht gestellt, zu Christus gehörend. Diese Realität hat eine Kraft, die auch in der Schwachheit mächtig ist (vgl. 2. Korinther 12,9). Sie widersteht dem Bösen, sie befähigt zur Verantwortung und zur Bereitschaft, Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die unser Leben trägt und ausrichtet (Vers 3,15).
Ich denke an die Kontraste unserer Zeit und versuche, die Anrede auf mich zu beziehen: Gotteskind, auserwählt, königlich, in Gottes Licht gestellt, zu Christus gehörend – fühlt sich gut an! Ich lächle und stehe aufrecht.

Von: Annegret Brauch

12. März

Zur selben Zeit und in jenen Tagen wird man die Missetat Israels suchen, spricht der HERR, aber es wird keine da sein, und die Sünden Judas, aber es wird keine gefunden werden; denn ich will sie vergeben. Jeremia 50,20

Bei Hannah Arendt findet sich in ihrem philosophischen Hauptwerk, «Vita activa oder Vom tätigen Leben», ein erhellendes Kapitel über «Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen». Darin entfaltet sie, was beim Vergeben und Verzeihen genau geschieht: Ausschlaggebend ist vielmehr, dass in der Verzeihung zwar eine Schuld vergeben wird, diese Schuld aber sozusagen nicht im Mittelpunkt der Handlung steht; in ihrem Mittelpunkt steht der Schuldige selbst, um dessentwillen der Verzeihende vergibt.
Nicht das getane Unrecht wird vergeben, sondern denen, die es begangen haben. Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber der Schatten des Vergangenen soll nicht die Zukunft verdunkeln. Es ist ein Akt der Befreiung, der einen Neuanfang ermöglicht.
Für die Deportierten im babylonischen Exil ist das der Hoffnungsanker: Gott hält seinem Volk die Treue; um seiner (des Volkes) selbst willen, vergibt der Ewige. Das Volk wird eine Zukunft haben, weil Gott es will, weil die Ewige sich an ihr Volk bindet. – Und wir dürfen in dieser Hoffnung mitbeten: «Unsere Hilfe steht im Namen Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat, der Treue hält ewiglich und nicht preisgibt das Werk seiner Hände.»

Von: Annegret Brauch

13. Januar

Dein Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge
lauter ist, so ist dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster.
Lukas 11,34

«So schaue darauf, dass nicht das Licht in dir Finsternis sei.» Der folgende Vers 35 gehört für mich unbedingt zu diesem Bildwort dazu. Wenige Verse zuvor weist Jesus das Ansinnen der Menschen zurück, die ein Zeichen, also einen sichtbaren Beweis seiner Macht von ihm fordern (Vers 29), und erklärt: Schaut vielmehr auf euch selbst, auf das, was euch gegeben ist: Licht und Leben; schaut auf die Gaben und Möglichkeiten, die ihr habt. Wofür nutzt ihr eure Sinne, euren Verstand, euer Herz …?
Jesu Rede changiert zwischen Zumutung und Zutrauen. Mir gefällt, dass Zumutung mit Mut und Zutrauen mit «trau dich!» zu tun hat. Jesus mutet seinen Zuhörer:innen – also auch uns – zu, Mut zu fassen, unseren Mut zusammenzunehmen. Und gleichzeitig traut er uns, unseren Möglichkeiten, etwas zu.
Wie schaue ich in die Welt? Was sehe ich? Und was übersehe ich? Was rührt mich an und bewegt mich? Und was lasse ich erst gar nicht an mich herankommen? Ist mein Blick auf die Welt und auf die Menschen, die mir begegnen, offen, klar, wohlwollend, also lauter oder getrübt, verdunkelt durch Ängste, Befürchtungen, versteckte Interessen? Wie nutze ich heute meine Möglichkeiten und was traue ich mich?

Von: Annegret Brauch

12. Januar

Hass erregt Hader; aber Liebe deckt alle
Übertretungen zu.
Sprüche 10,12

Wie in unserem Vers sind viele Spruchweisheiten in diesem biblischen Buch kurz und knapp gehalten. Sie bündeln Lebenserfahrung, wollen Orientierung für ein gutes, gelingendes Leben geben. Oft formulieren sie dabei einen Gegensatz und spannen so den weiten Bogen der Möglichkeiten auf, wie Leben gestaltet werden kann, zum Beispiel zwischen Hass und Liebe.
«Hass erregt Hader.» Die toxische Realität dieses Satzes wird uns täglich in Nachrichten, in sozialen Medien, manchmal auch in konkreten Begegnungen vor Augen geführt. Bei Hermann Cohen, Professor für Philosophie in Marburg, der sich auch intensiv mit dem Talmud beschäftigt hat, lese ich: «Ich bestreite den Hass im Menschenherzen. … Der Hass ist grundlos. Das ist das tiefste Wort, das über diese Verirrung des Gemütes gesprochen werden kann. Es gibt keinen Grund zu Hass. Jeder scheinbare Grund ist ein Irrtum und eine Verirrung. Der Mensch ist zum Lieben da. Und wenn er hasst, so wird sein Dasein vergeblich.» Cohen schrieb dies 1916, mitten im Ersten Weltkrieg.
Hass verletzt die Würde des Nächsten und meine eigene. «Der Mensch ist zum Lieben da.» Alle Kraft, alle Kreativität und Geistesgaben müssen dahin fliessen, um Schaden zu verhüten, um achtsamer zu werden für die kleinen Verletzungen, um den Schmerz der anderen zu begreifen. Liebe (ein-)üben als produktive, verändernde Macht!

Von: Annegret Brauch