Autor: Andreas Fischer

15. September

Und viele, die zuhörten, verwunderten sich und
sprachen: Ist der nicht der Zimmermann?
Markus 6,2.3

Welchen Beruf Jesus einst genau ausgeübt hatte, ist nicht ganz klar. Vielleicht war er als Bauhandwerker beim Neuaufbau der in der Nähe von Nazaret liegenden Residenzstadt Sepphoris tätig. Vielleicht hatte er auch bäuerliches Gerät wie Pflüge und Joche hergestellt.
Jedenfalls hat er seinen Job in jungen Jahren aufgegeben. Seither verkündet er als Wanderprediger das «Geheimnis des Gottesreichs» (Markus 4,11) und verwirklicht es kraft seiner Wundertaten.
Nun kehrt er zurück in sein Heimatdorf. Die Synagoge ist voll, viele wollen ihn hören, eine Frage folgt der anderen, alle reden durcheinander. Man ist skeptisch ihm gegenüber. Man kennt ihn, man weiss, aus welcher Familie er stammt, welcher Arbeit er nachgegangen war. Man meint, ihn «in bekannte Kategorien eingliedern» zu können (E. Schweizer).
Doch der Messias ist nicht integrierbar, er ist anders, grösser. Er ist, wie der Apostel Paulus mit denselben Worten wie Markus 6,2 sagt, «Kraft Gottes» (das griechische Wort Dynamis, «Kraft», bedeutet in Markus 6,2: «Krafttaten») und «Weisheit Gottes» (1. Korinther 1,24).
Aus dieser Kraft und Weisheit Gottes leben auch wir. Durch sie, in ihnen werden auch wir die Horizonte des eigenen Gewordenseins weit überschreiten.

Von: Andreas Fischer

14. September

Als der Sohn noch weit entfernt war, sah ihn
sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und
fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
Lukas 15,20

Martin Werlen, der frühere Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln, betont zu Recht: «Seine Not treibt den Verlorenen Sohn zurück nach Hause, nicht etwa die Liebe zu seinem Vater. Er will wenigstens wieder etwas zu essen haben.» Beim Vater verhält es sich anders: «Er hat ihn erwartet, hat nach ihm Ausschau gehalten, seine Liebe ist nicht erloschen.»
Das Mitgefühl des Vaters (es jammerte ihn) kommt von tief unten. Das entsprechende Wort im griechischen Urtext leitet sich von den Eingeweiden ab. Dort also, in den Eingeweiden, ist der Sitz der väterlichen Empathie.
Weiter ist es gegen jede Sitte, dass der Vater dem Sohn entgegenrennt. Ein würdiger Orientale rennt nicht, selbst wenn er es eilig hat. Dazu müsste er nämlich sein langes Gewand mit den Händen hochheben, und die nackten Waden würden sichtbar.
Der Kuss schliesslich ist in der Bibel Geste der Versöhnung. Mit dieser Geste kommt der Vater dem Schuldbekenntnis des Sohnes zuvor. Das in Vers 21 folgende Schuldbekenntnis hinkt hinterher. Es hat keine Bedeutung mehr.

Von: Andreas Fischer

15. Januar

Die Stunde kommt, und sie ist jetzt da, in der die
wahren Beter in Geist und Wahrheit zum Vater beten
werden.
Johannes 4,23

Als Rabbi Jischmael sich aufmachte, um Gott in Jerusalem
anzubeten, begegnete ihm ein Samaritaner und fragte ihn:
«Wäre es nicht besser für dich, auf diesem gesegneten Berg
zu beten als auf jenem Misthaufen?» Mit dem «gesegneten
Berg» meinte er den Garizim, den heiligen Berg der Samaritaner.
Der Jerusalemer Tempelberg hingegen war aus samaritanischer
Sicht ein «Misthaufen». – Der kleine interreligiöse
Dialog macht deutlich, wie tief der Graben zwischen Juden
und Samaritanern damals war. Dass der jüdische Mann Jesus
in der Szene, aus der der heutige Lehrtext stammt, mit einer
samaritanischen Frau in Dialog tritt, ist eine Grenzüberschreitung
sondergleichen.
Nichtsdestotrotz bleibt Jesus der Mensch jüdischer Herkunft,
der er ist: «Das Heil», sagt er, «kommt von den Juden»
(Vers 22). Doch dann transzendiert er diese chauvinistische
Position, transferiert sich selber in jenes grenzenlose Drüben,
das in ihm hier schon, heute schon angebrochen ist. Dass das
Gebet «in Geist und Wahrheit» vollzogen wird, setzt den
Ich-Tod voraus, in dem alle personalen, lokalen, nationalen
Eigeninteressen überwunden sind. Im Johannesevangelium
wird dieser Ich-Tod symbolisiert durch das «Weggehen»
Jesu Christi: Wenn er gehe, sagt er selbst, entstehe Raum für
den «Geist der Wahrheit», der kommt (Johannes 16,7–13!).

Von: Andreas Fischer

14. Juli

Meine Geliebten, flieht die Verehrung
der nichtigen Götter!
1. Korinther 10,14

Derzeit planen wir in unserer Kirche die Erstellung eines
Mandalas durch tibetische Mönche. Doch es gibt Einwände.
Sie entsprechen dem paulinischen Appell: Wir sollen in
unserem christlichen Gotteshaus keinen fremden Göttern
huldigen. Theologisch vermag ich mich gegen das Totschlagargument
nicht zu wehren. Doch mich beeindrucken die
Mönche, die ich von früheren Mandala-Aktionen her kenne,
ihre Einfachheit, ihr Humor, ihre Demut. Ich wünschte, ich
könnte selber aus derartigen spirituellen Quellen schöpfen.
Ausserdem hat mich das Schlussritual tief berührt: Wie sie
das Mandala, an dem sie eine Woche lang konzentriert gearbeitet
hatten, verwischten und den Sand dem nahegelegenen
Rhein übergaben.
In anderem Zusammenhang ist der paulinische Appell
für mich durchaus persönlich bedeutsam: Wenn mit den
«nichtigen Göttern» der Mammon gemeint ist oder woran
sich das menschliche Herz sonst noch so hängen mag, dann
leuchtet mir der urbiblische Befehl ein, keine anderen Götter
neben der einen Gottheit zu haben. Gerade hier aber ist
die Schlusszeremonie der tibetischen Mönche eine wegweisende
spirituelle Praxis. Sie entspricht den Worten des
christlichen Mönchs und Mystikers Meister Eckhart:
«Wer sich selber gelassen und nichts für sich behalten hat,
der hat alles; denn nichts haben, das ist alles haben.»

Von: Andreas Fischer

15. Mai

Jesus sprach: Der Zöllner stand ferne, wollte auch
die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug
sich an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder
gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab
in sein Haus.
Lukas 18,13–14

Meine Studienzeit liegt schon ein paar Dekaden zurück,
vieles habe ich vergessen. Doch an eine Szene erinnere ich
mich noch gut: Im Rahmen eines Bibliodrama-Workshops
spielten wir das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner,
an dessen Ende der heutige Lehrtext steht. Mir kam die Rolle
des Pharisäers zu. Bei der Auswertung zeigte sich der Leiter
beeindruckt von meiner Performance. Das Kompliment
kam bei mir durchaus ambivalent an und war wohl auch so
gemeint. Da war so etwas wie der «Pharisäer in mir» zum
Vorschein gekommen, jener Pfaffe, von dem Zwingli sagt, er
sei «stolz wie Holz».
Passend zu dieser prägenden Erinnerung schreibt Eduard
Schweizer in seinem Kommentar, man soll sich «nicht
nur mit dem Zöllner identifizieren, sondern in sich selbst
auch etwas vom Pharisäer entdecken». Indessen ist auch
die Identifikation mit dem Zöllner interessant. In Bezug auf
ihn schreibt Schweizer: «Mit Minderwertigkeitsgefühlen ist
nichts erreicht; erst mit der Entdeckung des unvorstellbar
gnädigen Gottes.» Das Gleichnis befreie, lautet Schweizers
Fazit, aus Selbstgerechtigkeit und auch aus «Lebensuntüchtigkeit,
die um den mangelnden Selbstwert kreist».

Von: Andreas Fischer

14. Mai

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am
äussersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich
führen und deine Rechte mich halten.
Psalm 139,9–10

Das unfassbar schöne Bild von den «Flügeln der Morgenröte
» verweist vermutlich auf die Geschichte von der magischen
Flucht in einem uralten Märchen. Jedenfalls führt es
bis an die Grenzen im Osten, wo die Sonne aufgeht, während
das «äusserste Meer» die Ufer des Mittelmeers und mithin
die Ränder des Westens beschreibt. Es gibt also, dies das
Fazit, kein Entrinnen. Die Fluchtwege sind verschlossen.
Den deutschen Psychoanalytiker Tilmann Moser (1938–
2024) hat dies in seiner Anklageschrift «Gottesvergiftung»
zu zornigen Gebetszeilen verleitet: «Was meinst du, wieviel
Drohung und Unentrinnbarkeit unter der Oberfläche dieser
Lobpreisung liegen?» Man fragt sich, was für ein Gottesbild
Moser in seinem schon ein paar Jährchen zurückliegenden
Konf-Unterricht vermittelt worden ist. Bei «Drohung» und
«Unentrinnbarkeit» kommt mir selber nicht der biblische
Gott in den Sinn, sondern die Techmilliardäre. Und meine
Stimmung, wenn ich an sie denke, ist eher verzweifelt als
zornig. Der einzige Trost, der mir in diesen irren Zeiten bleibt,
ist das Vertrauen auf die führende und haltende Hand des
Ewigen. In einem alten Kommentar steht eine super Zusammenfassung
des 139. Psalms und der heutigen Losung:
«Das ist das Erste und das Letzte: Gott ist mir nahe.»

Von: Andreas Fischer

15. März

Wenn jemand zu Christus gehört, gehört er schon zur neuen Schöpfung. Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist entstanden! 2. Korinther 5,17

Albert Schweitzer, dessen Geburtstag sich 2025 zum 150. Mal jährt, hat ein faszinierendes Buch mit dem Titel «Die Mystik des Apostels Paulus» geschrieben. Darin befasst er sich mit der sogenannten Rechtfertigungslehre von Paulus. Diese gilt der evangelischen Kirche als «articulus stantis et cadentis ecclesiae», als Grundsatz, mit dem die Kirche steht und fällt. Schweitzer hingegen vertritt die These, dass die «Rechtfertigung allein aus Glauben und nicht durch Werke des Gesetzes» nur ein «Nebenkrater» des paulinischen Denkens sei, der sich im «Hauptkrater der Mystik des Seins in Christus» gebildet habe.
Tatsächlich scheint es bei Paulus zwei Konzepte von Erlösung zu geben, die nicht deckungsgleich sind. Da ist auf der einen Seite die Rechtfertigungslehre, die mit juristischer Begrifflichkeit zum Ausdruck bringt, dass ich, unabhängig von meinen Taten, von Gott «gerechtfertigt» bin. Von Paulus stammen aber auch andere Aussagen, wo die Sprache keine juristische ist. Da geht es um Verbundenheit, Verwandlung, da ist keine Gerechtsprechung von aussen, sondern Transformation des «inneren Menschen».
Das ist es, was Schweitzer mit «Mystik des Seins» meint. Einer der «Sprüche paulinischer Mystik», die er seinem Buch voranstellt, ist der heutige Lehrtext.

Von: Andreas Fischer

14. März

Es ist über alle derselbe Herr, reich für alle,
die ihn anrufen.
Römer 10,12

Der christkatholische Theologe Ernst Gaugler (1891–1963), den ich nicht nur deshalb schätze, weil er einst Pfarrer im Fricktal war, wo ich heute lebe, schreibt in seinem im Zwingli-Verlag erschienenen Kommentar zum Römerbrief zu unserem Vers: Das Anrufen ist nicht einschränkend gemeint: Nur für die, die Seinen Namen anrufen. Sondern entschränkend: Nicht nur für die durch das Gesetz Gerechten, sondern für alle, Juden und Heiden in gleicher Weise, ist jetzt dieser Schatz göttlicher Gnade zugänglich, wenn sie ihn bloss «anrufen».
Weiter: Es ist nicht gemeint, dass zauberhaft-plötzlich, wenn wir nur «anrufen», automatisch die Errettung eintrete. Hinter dem Anrufen steht selbstverständlich das ganze Geheimnis der göttlichen Führung. Es ist dieses Geheimnis, welches wahrhaftiges Anrufen allererst bewirkt.
Und schliesslich: Der Reichtum Christi ist allen in gleicher Weise zugänglich. Kein Gesetz, keine menschliche Methode, kein religiöses Training steht mehr zwischen Ihm und uns, dem Reichtum seiner Liebe und unserer Armut.
Anruf genügt, ist man im Anschluss an Gaugler etwas salopp, aber zutreffend, zu sagen geneigt.
Nicht einschränkend, sondern entschränkend: Gauglers Lesart des heutigen Lehrtextes ist, wie mir scheint, uneingeschränkt zuzustimmen.

Von: Andreas Fischer

15. Januar

Der Mann soll seine Frau nicht vernachlässigen,
ebenso nicht die Frau ihren Mann.
1. Korinther 7,3

Was hier mit «nicht vernachlässigen» übersetzt ist, bedeutet gemäss dem griechischen Urtext eigentlich: «die Pflicht erfüllen». Dies wiederum ist Euphemismus, beschönigende Rede für den Geschlechtsverkehr. Im nächsten Vers wird diese Pflicht zur Pflichterfüllung begründet: «Die Frau verfügt nicht über ihren Körper, sondern der Mann; ebenso verfügt auch der Mann nicht über seinen Körper, sondern die Frau.» Man denkt – umso mehr, als in der Zeit, in der ich diesen Text schreibe, in Frankreich der Pélicot-Prozess stattfindet – dass solchen Behauptungen ein klares «Nein ist Nein» oder auch «Ja ist Ja» vorzuziehen sei.
Immerhin fällt die «partnerschaftliche Argumentation» (Luise Schottroff) bei Paulus auf. Sie ist im Frauen diskriminierenden antiken Umfeld ungewöhnlich und ein Hinweis darauf, dass es Paulus nicht um Missbrauch und Ausbeutung geht. Wenn die unverbrüchliche Selbstbestimmung über den eigenen Körper vorausgesetzt ist, werden die Überlegungen des Paulus für einen mystischen Weg interessant. Denn dieser besteht seinem Wesen nach in der Hingabe des eigenen Ich. Dorothee Sölle schreibt in ihrem Buch «Mystik und Widerstand»: «Die Entmachtung des Ich, die die Mystik braucht, setzt das selbständige, entscheidungsfähige Ich voraus. Es muss ein Ich da sein, wo ein Ich-los-Werden versucht wird.»

Von: Andreas Fischer

14. Januar

Jesus sprach zu dem jungen Mann: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach! Matthäus 19,21

Kürzlich skizzierte ich einem Ökonomen die These, die der katholische Pastoraltheologe Jan Loffeld in seinem Buch «Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt» entfaltet (und die betrüblicherweise meiner eigenen Erfahrung als Pfarrer entspricht): dass, salopp gesagt, viele Menschen ohne jeden Bezug zum Himmel ganz zufrieden sind mit ihrem Dasein auf Erden. Da ist keine Sehnsucht, kein unruhiges Herz, keine noch so leise Ahnung davon, dass es doch mehr als alles geben muss. Nach kurzem Nachdenken verwies mich der Ökonom auf Dorothee Sölle. Diese erwähnt in ihrem Buch «Mystik und Widerstand» ein Kind, das dreissig Puppen besitzt und darüber den emotionalen Bezug verliert, den es zu einer einzelnen Puppe hätte: Es würde sie kämmen, ihr einen Namen geben, sie lieben. Durch die anonyme Masse an Puppen entsteht ein emotionaler Hunger, der nach immer mehr Puppen ruft, durch diese aber gerade nicht gestillt wird. Sölle plädiert für eine neue Askese: «Sie muss ansetzen bei der als Autonomie und freie Auswahl deklarierten Abhängigkeit des Ich von der Warenwelt.» Mit dieser neuen Askese, erklärte mir der Ökonom, würde die Kirche an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen. Die Kirche, sagte er, soll Schätze im Himmel sammeln.

Von: Andreas Fischer