Tag: 1. November 2022

Mittelteil

Meine Seele läuft barfuss dem Wort hinterher

Von Ruth Näf Bernhard

Eine Bäuerin hatte mir einst erzählt, dass man Verse aus dem Lukasevangelium auf Zettel schreibe und dann den Kühen zu fressen gebe, um sie vor Seuchen zu schützen. Auch unheilbar Kranke bekämen solche Verse als Nahrung. Und Frauen während einer schweren Geburt. Ob das stimmt, das weiss ich nicht. Doch die Geschichte ist mir geblieben.

Im Unterricht erzählte uns der Pfarrer Geschichten aus der Bibel. Vom barmherzigen Samariter. Vom verlorenen Sohn. Wir haben immer heimlich einen Wecker gestellt und diesen irgendwo im Schulzimmer versteckt. Weil der Pfarrer nicht zeitig aufhören konnte. Von einem Lukas haben wir wohl nichts gehört. Aber die Geschichten sind mir geblieben.

Irgendwann war ich selber Pfarrerin. Lukas hatte ich nun kennengelernt. Während des Studiums historisch-kritisch ausgelegt. Hintergrund und Zusammenhänge zu erfassen versucht. Theologische Kommentare zum Evangelium gelesen. Verglichen. Verworfen. Spekuliert. Die Geschichten sind mir dennoch geblieben.

Eine hoch betagte Frau bat mich darum, mit ihr das Lukasevangelium zu lesen. Und zwar das ganze. Und am liebsten gleich auch noch mit ihr zu besprechen. Die Kirche war ihr fremd geworden. Doch sie fühlte sich Maria irgendwie nahe. Gerade jetzt im Advent. In ihrem wahrscheinlich letzten.

Advent. Sie erinnerte sich an die Begegnung von Maria und Elisabeth. Wie das Kind im Leibe hüpfte. Das sei so innig. So zärtlich schön. Diese Geschichte war ihr geblieben.

Ein junger Mann, sterbenskrank, der seit Jahren am Rande der Gesellschaft lebte, äusserte einen letzten Wunsch. Er, der kaum noch sprechen konnte, wollte die Weihnachtsgeschichte hören. So, wie man sie in der Kirche erzähle. So wie er sie als Kind gehört habe. Und wenn möglich mit Bildern. Mitten im Sommer die Weihnachtsgeschichte. In Worten und Bildern. Sie war ihm geblieben. Bis in den Tod.

Lukas ist mir immer vertrauter geworden. Doch ich wollte mich neu berühren lassen. Darum habe ich nochmals zu lesen begonnen. Das ganze Lukasevangelium. Jede Woche einen Tag. Jede Woche ein Kapitel. Von Kapitel 1 bis Kapitel 24. Immer schön der Reihe nach. Von der Adventszeit bis zur Himmelfahrt. Ich bin mit Lukas spazieren gegangen. Bei jedem Wind und Wetter. Unabhängig von meiner Tagesform. Ich habe zuerst das Kapitel gelesen. Habe hingehört. Gehorcht. Gelauscht. Mich davon bewegen lassen. Und auf diesem Weg vieles entdeckt. Beim Hinhören habe ich Worte gefunden. Es sind Gedichte darausentstanden. Gedichte, die oft zu Gebeten werden. Es sind immer nur einzelne Verse verdichtet. Jene, die mir etwas zu sagen hatten. An jenem Tag. In jenem Moment. Ohne dass ich es begründen könnte. Ich gehe nicht davon aus, dass meine verdichteten Bibelverse Kühe vor Seuchen schüt- zen werden. Auch Frauen während einer schweren Geburt werden sie wohl kaum Linderung verschaffen. Aber vielleicht ermutigen sie, etwas plötzlich anders zu sehen. Neu zu denken. Freier zu glauben. Und wenn nun auch ich einen sage jWunsch frei hätte: Lassen Sie es nicht bei den Häppchen bleiben. Hören Sie auf den ganzen Text. Nehmen auch Sie die Bibel zur Hand. Lesen Sie das Evangelium. Jedes Kapitel in seiner Tiefe. Immer schön der Reihe nach. Lassen Sie sich berühren. Zwischen den Zeilen. Lassen Sie sich bewegen. Vom Wort, das Sie findet. Damit es nicht mit der Weihnachtsgeschichte schon aufhört. Denn das ist erst der Anfang.

Lukas 1,38

Da sagte Maria: Ja, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast! Und der Engel verliess  sie.

geschehen lassen

was

geschehen will

sich  nicht

dem leben

entgegenstellen

es wieder üben

ja zu sagen

sich

dieser freiheit

anvertrauen

ja

ich sage

ja

1. November

Die Gastkolumne kommt von Georg Schubert. Er ist Mitglied der Kommunität Don Camillo und gehört zum Team des Stadtklosters Segen in Berlin.

Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der HERR.    Sacharja 2,14

«Ach, im November ist alles so dunkel. Das Kirchenjahr geht zu Ende. Man soll über den Tod nachdenken. Ich finde das so traurig.» Vielleicht haben Sie das auch schon gehört. Vielleicht schon selbst gesagt oder gedacht. Es stimmt ja auch, die Tage werden kürzer, die Herbstfarben sind vorbei, es wird dunkel und grau. Das Kirchenjahr geht zu Ende. Sein letzter Sonntag ist der Totensonntag oder Ewigkeitssonntag. Da hinein klingt die Losung von diesem 1. November. Sie weist in eine ganz andere Richtung. Sie spricht von der Zukunft, die Gott für uns bereithat.

Diese Verse gehören irgendwie fest zu Weihnachten. Da werden sie gelesen und gepredigt. Ich bin aber überzeugt, dass dieser Prophetenspruch über das Weihnachtsgeschehen hinausweist. Denn dieser Gedanke, dass Gott mit uns ist und unter uns wohnt, zieht sich durch die Bibel bis zur Offenbarung, wo wir lesen:

«Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her  rufen: Sieh her: Gottes Wohnung ist bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein. Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein?» (Offenbarung 21,3) Johannes sieht da eine Zukunft, in der Gott tatsächlich gegenwärtig ist in unserer Mitte. Ich finde diese Zusage, dass Gott es mit uns aushalten will, sehr besonders. Er will mit uns Gemeinschaft haben. Das bekennen wir und erfahren es ja auch, dass er schon heute durch seinen Geist unter uns ist. Aber diese Bilder beim Propheten und in der Offenbarung lassen mich hoffen, dass Gott eine Zukunft bereithält, in der wir seine Gegenwart in einer anderen Qualität erfahren.

Ich kann mir das nicht vorstellen. Meine Bilder von Gott stehen mir im Weg. Ich weiss, dass er kein alter Mann mit Bart ist, ich weiss, dass Gott mehr ist als Energie oder Kraft. Er muss Person sein mit Gestaltungswillen und Handlungsmöglichkeit. Schon der Psalmdichter wusste: «Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?» (Psalm 94,9)

Und gleichzeitig muss er viel mehr Person sein, als wir sind. Umfassender, vollkommener, einfach unvorstellbar. Und dieser Gott will unter uns wohnen.

Er wird das Licht sein, es wird kein Geschrei, keinen Schmerz und kein Leid mehr geben. Stellen Sie sich das vor! Gott selbst wird die Tränen abwischen, dann, wenn er unter uns wohnt. Auf diese Zukunft gehen wir auch in diesem November zu. Keiner kennt die Stunde, wann das eintreten wird. Aber die Bilder sind so grossartig, dass es sich lohnt zu warten, ihm entgegenzuhoffen, bis er kommt. Und zu rufen und zu beten: «Maranatha, ja, komm, Herr Jesus.»

Von Georg Schubert