Tag: 1. September 2022

1. September

Du nahtest dich zu mir, als ich dich anrief, und sprachst: Fürchte dich nicht! Klagelieder 3,57

Die Gastkolumne stammt von Werner Kramer. Er war Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich.
Wenn ich in der Bibel oder in den Bolderntexten lese, hoffe ich, dass sich der Sinn ihrer Worte mischt mit meinen eigenen Empfindungen und ich verändert in meinen Tag gehe. Manchmal verdanke ich den Menschen der Bibel Worte, um eigene Erfahrungen auszudrücken, oder Bilder, die Eigenes spiegeln.
Gerne würde ich das heutige Wort als eigene Erfahrung nachsprechen: «Du nahtest dich mir, als ich dich anrief.» Als ich betete, fühlte ich dich mir ganz nah, wie Wärme, die mich anstrahlt. Ein zutiefst glücklicher Moment.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich nicht selten beim Beten Gottes Nähe kaum spüre. Anderes schiesst mir durch den Kopf, oder ich schlafe ein. Oft muss ich mich schütteln und selber zu mir sagen: Fürchte dich nicht!
Manchmal fühle ich mich umgeben von Menschen, zu denen in der Bibel gesagt wird: «Fürchte dich nicht.» Da sind Hirten auf dem Feld, denen der Engel dies in der Weih- nachtsnacht zuruft, da ist der Täufling in der Kirche, dem die Pfarrerin den Taufspruch zuspricht: «Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.» In dieser Gesellschaft bin ich gerne.

Dass «Fürchte dich nicht!» auch in den wenig bekannten Klageliedern des Alten Testaments steht, wusste ich nicht, bis es mir als Losungswort zufiel. Und mit ihm die Situation des durch die Babylonier zerstörten Jerusalem und des Tempels.

«Ach, wie liegt sie einsam da, die Stadt, einst reich an Volk, nun einer Witwe gleich!» «Draussen raubt das Schwert die Kinder, im Haus ist es wie tot.» «Ach, wie färbt das Gold sich schwarz, die Steine des Heiligtums liegen herum an allen Strassenenden.» Tod, Zerstörung, Gefangenschaft, Ausrottung – die nie endende Geschichte des Krieges. Von der Zerstörung Jerusalems bis zu Mariupol in der Ostukraine, dem Erdboden gleich gemacht. Tote in den Strassen, Massengräber, die Zivilbevölkerung vertrieben oder deportiert.
«Wasser flutete über mein Haupt, ich sagte, ich bin vom Leben abgeschnitten.» Hört das denn nie auf? Bleiben uns nur Klagelieder?
«Ich rief deinen Namen, Herr, von tief unten aus der Grube.» Was nützt das? Nach der Erfahrung dessen, der das Klagelied anstimmte: «Am Tag, da ich dich rief, hast du dich genaht, du sprachst: Fürchte dich nicht.»
Ja: «Er kann, er will, er wird in Not, vom Tode selbst und durch den Tod uns zu dem Leben führen.»

Was sollte ich mich fürchten?

Von Werner Kramer

Mittelteil September / Oktober

Das Hoffnungswissen
Von Madeleine Strub-Jaccoud, Präsidentin des Trägervereins Boldern

Es ist an der Zeit, Sie, liebe Leserinnen und Leser, mitzunehmen auf den Weg, den Boldern geht. Dabei spielen die Bolderntexte eine wesentliche Rolle: Sie sind unsere Praxis Pietatis auf dem Weg in die Zukunft. Die Vielfalt der Texte und ihre konstante Reflexion biblischer Worte sind eine wichtige Grundlage. Diese Konstanz zu erhalten, ist ein Ziel. Die Bolderntexte bauen das auf, was wir alle brauchen und was für Boldern wohl das Wichtigste ist: Die Texte helfen, das biblische Hoffnungswissen zu vertiefen; gleichzeitig sind sie fest verankert im Kontext unserer Realität. Denn die Geschichte von Boldern ist eine Hoffnungsgeschichte und wird weitergeschrieben, der Weg dieses einmaligen Ortes führt in eine gute Zukunft.

Die Vision
Der Vorstand des Trägervereins Boldern, der bald der Stiftungsrat der gemeinnützigen, steuerbefreiten Stiftung Boldern sein wird, lebt die Vision, auf welcher seine Arbeit beruht: «Boldern inspiriert Menschen, sich für eine solidarische Gesellschaft und nachhaltige Lebensräume zu engagieren.» Ein weite Vision, die immer ermutigt zu konkreten Schritten auf dem Weg.

Wohnen auf der Seeterrasse
Nachdem die Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich 2012 ihre Subventionen eingestellt und die verbleibenden Studienleiterinnen und Studienleiter in die gesamtkirchlichen Dienste integriert hatte, stellte sich die Frage nach der Zukunft. Die grosse Landreserve, über die Boldern seit der Gründung verfügt, wird überbaut mit einer nachhaltigen Wohnsiedlung. Diese wird ca. 55 Wohnungen zur Miete zur Verfügung stellen. Die Mietpreise sollen fair sein, die ganze Siedlung ist so aufgebaut, dass sie zur Gemeinschaft einlädt. Die Gestaltung der Aussenräume ist nicht nur nachhaltig und ökologisch, sondern verbunden mit der Natur auf dem Plateau von Boldern. Die Wohnsiedlung ist durch ein Wegnetz mit dem Plateau verbunden, sie ist offen und wird eine hohe Lebensqualität ermöglichen. Die Mieteinnahmen werden wesentlich dazu beitragen, die finanzielle Situation von Boldern zu sanieren. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die Zukunft. Wir hoffen, dass der Bau nach dem Bewilligungsverfahren Ende 2023 beginnen kann.

Die Stiftung und der Förderverein
Der Trägerverein Boldern hat an seiner Vereinsversammlung vom 7. Mai 2022 eine Urabstimmung zur Gründung der Stiftung Boldern und zur Übertragung des gesamten Vermögens an diese Stiftung angeordnet. Die Stiftung soll die strukturelle Grundlage von Boldern bilden. Sie garantiert, dass der Weg weitergeht und auch von den reformierten Kirchgemeinden wieder vermehrt wahrgenommen wird als Ort der Begegnung und der Kraft. Der Förderverein Boldern wird die Aufgabe haben, die Geschichte von Boldern zusammen mit der Stiftung weiterhin fortzuschreiben. Er soll sein Netzwerk als Unterstützung namentlich des Kerngeschäfts
«Boldern inspiriert» nutzen, vergrössern und sich beteiligen. Viele Kirchgemeinden sind Mitglieder des Trägervereins geblieben. Nach wie vor sind wir überzeugt, dass Boldern einen wichtigen Beitrag leisten kann zur Entwicklung von Kirche im weitesten Sinn. Die Vision von Boldern, welche auf die Zukunft ausgerichtet ist, lädt ein, sich auf die Menschen einzulassen, auf sie zu hören, sie mit ihrer Geschichte und ihrer Lebenssituation ernst zu nehmen und mit ihnen die Gesellschaft und somit die Zukunft zu gestalten.

Boldern inspiriert
Das Kerngeschäft von Boldern ist es, Menschen dafür zu gewinnen, einander zu begegnen, sich auszutauschen, sich auseinanderzusetzen, sich einzusetzen. Das Hoffnungswissen und die Offenheit für alle, die Inklusion und die Partizipation sind dabei wichtige Leitplanken. Seit Beginn der Arbeit des jetzigen Vorstandes des Trägervereins konnten wir dank ehrenamtlicher Arbeit einladen zu Veranstaltungen in den Reihen «theologisch boldern», «politisch boldern»,
«literarisch boldern» und «ökologisch boldern». Gewiss, nach der langen Zeit der Krise musste dieser Bereich mit viel Hoffnung neu aufgebaut werden. Das hat Kraft gekostet und war nicht immer von Erfolg gekrönt. Aber auch da: Konstanz, Vielfalt und das Weiterentwickeln des Hoffnungswissens waren und sind das Anliegen. Die Stiftung Boldern wird diesen Bereich verstärken.

Das Hotel Boldern
Nachdem der jetzige Vorstand seine Arbeit aufgenommen hatte, hat er sofort an der Sanierung des Hotels gearbeitet. Der Ort soll nicht nur erhalten bleiben, sondern geöffnet werden für ein breites Publikum. Das ist dem Hotel Boldern weitgehend gelungen. Dafür sind wir enorm dankbar, denn der Ort lebt wieder. Allerdings ist uns klar, dass das Hotel in die Jahre gekommen ist und nicht mehr ganz den Ansprüchen unserer Zeit entspricht. Und so sind wir, der Vorstand und die Aktiengesellschaft Hotel Boldern, daran, auch da eine gute Zukunft zu planen.

Die Verbundenheit mit der Natur
Das Plateau Boldern entwickelt sich zu einer ökologischen Oase. Es strahlt, wenn die Blumen der Naturwiesen blühen, es bietet Ruhe und Weitsicht. Es lädt ein zur Begegnung mit wieder mehr Vogelarten, hie und da Rehen und sogar mit einem Wiesel. Es bildet mehr und mehr auch Heimat für Igel und andere Tiere, für Insekten und Schmetterlinge.

Das Netzwerk Boldern
Boldern ist nicht mehr allein auf dem Hügel, sondern mehr und mehr vernetzt mit anderen Organisationen mit ähnlichen Zielen. So arbeiten wir eng zusammen mit dem Verein Appisberg, einem Kompetenzzentrum für berufliche Integration. Bereits haben wir einen Vertrag geschlossen, der ermöglicht, dass der Appisberg die Verwaltung unserer Liegenschaften verantwortet. Die Anna Zemp Stiftung ist mit ihrem nachhaltigen Garten und ihren Aktivitäten unsere Nachbarin. Mit ihr und dem Natur- und Vogelschutzverein Männedorf-Uetikon besteht eine Zusammenarbeit, die alle bereichert.

Für Sie, die Leserinnen und Leser, die Autorinnen und Autoren und die Redaktorinnen, gibt es kein Schlusswort, aber einen Ausblick. Voller Dankbarkeit schaue ich zurück auf die Jahre der Weiterentwicklung von Boldern nach der grossen Leere. Sie ist Vergangenheit. Und der Weg in die Zukunft ist vorgezeichnet von Hoffnung, von der Überzeugung, dass Boldern wieder ein Ort wird, der den Menschen und der Welt, auch in ihrem jetzigen Zustand, zugewandt ist. Und auch ganz persönlich: Boldern war und ist für mich und für viele andere ein Ort des Lebens, ein Ort der Kraft und der Gestaltung, des Hörens und des Lernens. Die Konstanz und die Verlässlichkeit der Bolderntexte waren und sind wesentlich. Sie tragen das Hoffnungswissen der biblischen Texte weiter auf einem Weg, der zum «gesegneten Ort Boldern» gehört, wie es der Referent aus Berlin an der Langen Pfingstnacht Anfang Juni formuliert hat …

Madeleine Strub-Jaccoud
Präsidentin des Trägervereins Boldern