Schlagwort: Matthias Hui

6. August

Voll Mitleid und Erbarmen ist der Herr. Jakobus 5,11

Gott hat viele Namen. Ganz bestimmt zählt «Buchhalterin»
nicht dazu. Gott berechnet nicht, wer wie viel Mitleid zugute
hat. Er zieht nicht Bilanz, wem wie viel Erbarmen zusteht.
Vor Gott sind wir alle gleich. Für alle ist genug da. Aber wir
führen uns dennoch oft als Buchhalter auf. Wir lassen den
einen mehr Mitgefühl zukommen als anderen – weil sie uns
sympathischer sind, vertrauter. Oder weil wir in Rechnung
stellen, dass sie uns schon mal geholfen haben oder wir noch
auf sie angewiesen sein könnten. Die Journalistin Christine
Wiedemann spricht von der «Ökonomie der Empathie». Es
gebe Richtungen, in die Empathie frei fliessen könne, und
andere, wo der Fluss blockiert sei.
Christine Wiedemann will, dass das, was gesellschaftliche
Gruppen in der Geschichte erlitten haben oder in der Gegenwart
erleiden, nicht in Konkurrenz zueinander gestellt wird.
Opferzahlen gehören nicht auf Waagschalen. Zum Beispiel
die Shoah, die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen
und Juden, und die Nakba, die Vertreibung der Palästinenserinnen
und Palästinenser aus ihrem Land. Gott ist voll
Mitleid und Erbarmen: Er will, was Christine Wiedemann
so beschreibt: «eine Welt, in der es keine Hierarchie von
Leiderfahrungen
mehr gibt und keinen Schmerz, der nicht
zählt».

Von: Matthias Hui

5. August

HERR, höre meine Worte, merke auf mein Seufzen!
Vernimm mein Schreien; denn ich will zu dir beten.

Psalm 5,2.3

Wie oft beten Sie? Das schweizerische Bundesamt für Statistik
wollte es vor einiger Zeit ganz genau wissen. 44,8 Prozent
gaben an, dass sie in den letzten zwölf Monaten nicht
gebetet haben. Fast gleich viele Befragte, nämlich 43,4 Prozent,
gaben an, dass sie mindestens einmal im Monat beten,
24,1 Prozent davon täglich. Was bedeutet Ihnen das Gebet?
Wird Ihr Seufzen vernehmbar oder gar Ihr Schreien? Kann
vielleicht zumindest Gott es hören?
Vor zwanzig Jahren ist Dorothee Sölle gestorben. Sie fehlt.
Denn es gibt nicht viele Menschen wie sie, die uns weiterhin
zum Beten ermutigen. Die uns die Schönheit und
die Menschlichkeit, das Dialogische und das Politische des
Betens zeigen. Dorothee Sölle sagte: «Beten bedeutet, nicht
zu verzweifeln. Beten ist Widerspruch gegen den Tod. Es
bedeutet, Wünsche zu haben für uns und unsere Kinder.»
Für die Statistik wäre Dorothee Sölle ein klarer Fall gewesen:
Täglich (…) gott um die gabe der tränen bitten
täglich salz und scham
täglich frei werden
täglich gott
Dorthin möchte ich gerne. Und Sie?

Von: Matthias Hui

6. Juni

Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf
dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und
brachte sie zu dem Menschen. Und der Mensch gab
einem jeden seinen Namen.
1. Mose 2,19.20


Geht es in diesen Sätzen am Anfang der Bibel um den Menschen
und wie ihm die Tiere zugeordnet sind? Oder lesen wir
aus der Bibel auch etwas über Tiere heraus, über ihre Würde,
ihr Leiden, ihr Recht? Bezieht sich Biblisches, wie Gerechtigkeit
und Nächstenliebe, auch auf Tiere?
Wenn der Mensch jedem Tier seinen Namen zuordnet,
um Antilopen, Mücken und Legehühner zu kategorisieren,
zu sezieren und Kosten und Nutzen festzulegen, hat das mit
einem fehlgedeuteten «untertan machen» zu tun.
Wenn der Mensch seinem Büsi und seinem Labrador einen
Namen gibt und diese Individuen nie auf den Fleischmarkt
werfen würde, aber fröhlich Stücke anonymer Schweine grilliert
und in der Bratwurst kein Kalb mit Namen mehr sieht,
ist er auf halbem Weg stecken geblieben.
Wenn der Mensch die Tiere auf dem Felde und die Vögel
unter dem Himmel bestaunt und ihnen einen kollektiven
oder individuellen Namen gibt, um jedes einzelne als einzigartiges
Mitgeschöpf wahrzunehmen, dann ist dies der
Anfang von etwas Neuem – von einem neuen Himmel und
einer neuen Erde, wie es am Schluss der Bibel heisst. Dieser
Bibel, die vielleicht wirklich auch ein Buch für Tiere ist.

Von: Matthias Hui

5. Juni

Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus
Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in
ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid,
und voller Dankbarkeit.
Kolosser 2,6–7


Kennen Sie Menschen, die Ihnen eine Idee davon geben,
was es bedeuten kann, «verwurzelt und gegründet» in Jesus
Christus zu leben – weit über ein frommes Lippenbekenntnis,
über den abstrakten Begriff «Nachfolge» hinaus?
Kürzlich ist ein Bekannter von mir gestorben. Sein Ethos
fand er in der Bergpredigt. Über seinem Pult hing ein Plädoyer
von Martin Luther King Jr. für Feindesliebe, weil nur diese
Liebe die Welt wirklich transformieren könne. Ueli, so hiess
mein Bekannter, machte ernst mit der aktiven Gewaltfreiheit.
Er verweigerte den Militärdienst. Unzählige Menschen
lernten in Seminaren bei ihm Methoden schöpferischer
Gewaltfreiheit kennen. In Aktionen gegen Waffenschauen,
in der Anti-AKW-Bewegung, in Netzwerken mit Geflüchteten
setzte er manches um. Inspiriert von Mahatma Gandhi
pflegte er einen einfachen Lebensstil und hielt manuelle
Arbeit hoch – so als regelmässiger Bergheuer.
Er hat sehr beharrlich und treu versucht, sein Leben in der
Bergpredigt zu verwurzeln. Der bärtige Friedensarbeiter hat
längst nicht alles geschafft.
Auf jeden Fall: Für Lebensentwürfe und Glaubensspuren
von Menschen wie Ueli bin ich voller Dankbarkeit.

Von: Matthias Hui