Schlagwort: Matthias Hui

27. August

Der Vater sprach zum älteren Sohn: Feiern muss man jetzt und sich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden. Lukas 15,32

In einem nicht allzu fernen Land erlebte ich vor ein paar Jahrzehnten mit, wie es ist, wenn die meisten Menschen kein Telefon zuhause haben. Dass dereinst Anrufe von unterwegs oder Whatsapp- und Signal-Nachrichten auf ein Mobiltelefon Alltag würden, konnte man sich überhaupt nicht ausmalen. Damals konnte es passieren, dass ein aus den Augen verlorener Verwandter oder eine Schar Freundinnen unvermittelt vor der Tür stand. Damals konnte es passieren, dass daraus ein ungeplantes Fest wurde. Feiern muss man jetzt und sich freuen!
So kann ich das Glück von Sportsfreunden nachvollziehen, die ausgelassen feiern, wenn ihr Team gewinnt, erst recht, wenn der Erfolg überraschend kommt. Es sind Freudenfeste, die man sich nicht im Voraus in die Agenda eintragen kann.
Und, ganz anders, können auch Trauerfeiern zu Feiern des Lebens werden, vorausgesetzt, der Mensch konnte lebenssatt sterben und das gemeinsame Abschiednehmen gelingt. Der Tod unterbricht den Alltag der Menschen rundherum jäh, durchkreuzt vorhandene Termine. In diesem unplanbaren Moment kann aus dem Sterben und der Trauer Lebendiges werden. Jetzt, unaufschiebbar.

Von: Matthias Hui

26. August

Der HERR behütet dich; der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts. Psalm 121,5–6

Als unser Sohn noch ein Kind war, legte ich mich jeweils am Abend neben ihn. Ein kurzes, selbstgemachtes Lied beschloss unser Einschlafritual. Im Text kam der liebe Gott vor und auch mein Wunsch für eine gute Nacht und für einen nächsten glücklichen Tag. Die Melodie, die Wiederholung wiegte den Buben zuverlässig in den Schlaf.
In diesen Momenten geht es um Geborgenheit, das Vermitteln von Behütetsein. Es sind andere Menschen, es sind Erwachsene, die das Urvertrauen eines Kindes bewahren, stärken, nähren können. Sie tun es stellvertretend – auch für Gott, wie es benennen würde, wer in einer Glaubenssprache zuhause ist.
Es sind kleine und grosse Menschen, die einander zu spüren geben, dass sie aufeinander angewiesen sind, geliebt und auf dieser Erde gebraucht werden, hier willkommen und zuhause sind. Martin Buber sieht die Beziehung zwischen Kindern und den sie liebenden Erwachsenen als «nie abreissende Zwiesprache». Die Kinder beschreibt er in diesen Momenten am Abend – in ganz eigener Sprache – so: «Im Angesicht der einsamen Nacht, die einzudringen droht, liegen sie bewahrt und behütet, unverwundbar, im silbernen Panzerhemd des Vertrauens.» – Und die Kinder in Gaza?

Von: Matthias Hui

27. Juni

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir,
so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder
sterben, so sind wir des Herrn
. Römer 14,8

Menschen im hohen und höchsten Alter in meinem Umfeld
bedeuten mir viel. Sie stehen ganz unterschiedlich am Übergang
vom Leben zum Sterben. Eine Person hat sich in letzter
Zeit stark verändert und ihre Gelassenheit verloren. Sie
fürchtet sich in dunklen Momenten davor, verfolgt, bestohlen
oder gar um die Ecke gebracht zu werden. Eine andere
Person fühlt sich von der Welt, für deren Wohlergehen sie
zeitlebens so gekämpft hat, öfter mal im Stich gelassen.
Zwischendurch spürt sie doch grossen Trost, wenn sie sich
Gedanken macht zu ihrer eigenen Trauerfeier: Nur von der
Liebe und vom Reich Gottes soll dann die Rede sein. Und
einer dritten Person sind alltägliche Anlässe – der Vogelgesang
vor dem Fenster, ein irritierendes Bild in der Zeitung,
eine zufällige Begegnung auf der Strasse vor dem Altersheim
– grosse Inspirationen: Sie öffnen Schleusen für Erinnerungen
und lassen sie gleichzeitig ganz in der Gegenwart
präsent sein.
Ich wünschte allen, dass sie voller Vertrauen einstimmen
könnten in den Satz «Wir leben oder sterben, so sind wir
des Herrn» und dann ins Lied: «Du bringst mich doch zum
Ziele, auch durch die Nacht. So nimm denn meine Hände
und führe mich, bis ich den Lauf vollende und ewiglich.»

Von: Matthias Hui

26. Juni

Der HERR sprach zu Mose: Versammle mir das Volk,
dass ich sie meine Worte hören lasse und sie mich
fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und
ihre Kinder lehren.
5. Mose 4,10

Was sind es für «Worte», mit denen Gott sich an sein Volk
richten will? Auch wenn alles in dieser biblischen Passage
nach Grossem und Gewichtigem klingt: Ich glaube, es sind
keine Worte «von heiliger Ordnung, von ewiger Wahrheit,
reiner Lehre und Enge in der Brust» gemeint, sondern es
geht um «Weite und Wind». So formuliert es Jacqueline
Keune in einem Gedicht in ihrem neuen Band «Es werden
wieder Tage sein».
Bei Gott oder «am Anfang», wie sie weiterschreibt, sind
«nirgendwo abgelaufene Silben, abgedroschene Phrasen,
sondern eben erst zur Welt gekommene Worte»; diese
seien lebensgefährlich, sie zielten mitten ins Herz. Und was
beschreiben diese Worte wohl? Ich schliesse mich der Vermutung
von Jacqueline Keune aus demselben Gedicht an:
Inhalte werden «Gerechtigkeit und Friede, die sich in den
Armen liegen, die grossen Taten Gottes – Auszug und Aufstand
–, die Stadt aus Licht in allen Mundarten und Muttersprachen
» sein.
Das klingt nach einer Gegenerzählung zu den breitspurigen
und alles plattwalzenden Worten der Herren unserer
Tage, die ebenfalls den Anspruch haben, zum «Volk» zu
sprechen.

Von: Matthias Hui

31. Mai

Die Reichen sollen Gutes tun, reich werden an
guten Werken, freigebig sein und ihren Sinn auf
das Gemeinwohl richten. So verschaffen sie sich eine
gute Grundlage für die Zukunft, die dazu dient,
das wahre Leben zu gewinnen.
1. Timotheus 6,18–19

Diese Sätze könnten geradezu von den Juso stammen.
Kritische junge Menschen haben in der Schweiz ein Volksbegehren
formuliert und es – ganz in der Sprache des Timotheusbriefs
– «Initiative für eine Zukunft» benannt. Weil
aber nur ein frommer Appell «Die Reichen sollen Gutes tun,
freigiebig sein und ihren Sinn auf das Gemeinwohl richten»
wohl wenig Veränderungen bewirken würde, wollen die Juso
ihr Anliegen verbindlich in die Verfassung schreiben. Die
Jungpartei fordert eine Erbschaftssteuer, damit der Reichtum
von wenigen zur guten Grundlage für die Zukunft aller
werden könne. Sie schlägt einen Steuersatz von 50 Prozent
ab einem Freibetrag von 50 Millionen Franken vor.
Die Einnahmen sollen sozial gerechten Klimaschutzmassnahmen
und dem ökologischen Umbau der Wirtschaft dienen.
Gerade die Superreichen tragen mit ihren Yachten und
Privatflugzeugen, mit ihren Spekulationen und Geschäftspraktiken
enorm zur Klimakatastrophe bei. Es geht beim
Vorschlag weder um Neid noch um Zwang. Es geht darum,
das wahre, gute Leben zu gewinnen. Und dies nicht erst im
Himmel, wenn es für die Bewahrung der Erde zu spät ist.

Von: Matthias Hui

27. April

Jesus erzählt im Gleichnis: Der Schuldner warf sich
vor ihm nieder und bat: Hab doch Geduld mit mir!
Ich will dir ja alles zurückzahlen. Da bekam der Herr Mitleid; er gab ihn frei und erliess ihm auch noch die ganze Schuld.
Matthäus 18,26–27

Vor ganz genau fünfhundert Jahren erhoben sich in weiten Teilen Deutschlands und verschiedenen Regionen der heutigen Schweiz Untertanen gegen die Herrschaft. Es waren die kurzen Monate des «Bauernkriegs». Sehr viele Menschen, gerade auf dem Land, nahmen die Gedanken von Luther und Zwingli und anderen Reformatoren begierig auf. In ihren beschwerlichen Lebensumständen verstanden sie «Die Freiheit eines Christenmenschen» oder «Göttliche und menschliche Gerechtigkeit» als befreiende Botschaften.
Reformatorische Flugschriften und lokale Prediger liessen sie erkennen, was tatsächlich in der Bibel steht. Zum Beispiel in den Gleichnissen Jesu, wo Schuld und Schulden die umwerfende Alternative von Schuldenerlass und Gottes Gnade gegenübergestellt wird. Sie erkannten in den Texten ihre eigene Abhängigkeit von adliger, klösterlicher, städtischer Obrigkeit. Sie teilten einen, bald von Gewalt und Macht niedergerungenen, Moment der Utopie vom Ende ungerechter Herrschaft. Ein Geist von Gemeinschaftlichkeit und biblischer Spiritualität erfüllte die Massen, wie dies in der europäischen Geschichte kaum je der Fall war. Bis heute. Deshalb ist die Erinnerung daran kostbar.

Von: Matthias Hui

26. April

Wer Geld liebt, wird vom Geld niemals satt,
und wer Reichtum liebt, wird keinen Nutzen
davon haben.
Prediger 5,9

Wir sitzen in einem Bergrestaurant und tauschen uns über die Weltlage aus. Die Stimmung verdüstert sich rasch. Jemand in der Runde erwähnt Elon Musk. Er verfüge über vierhundert Milliarden Dollar Vermögen, sei im Besitz strategisch wichtiger, global tätiger Unternehmen und lege einen missionarischen Eifer zutage, die Machtergreifung von rechtsextremen Kräften zu alimentieren. Er sei der aktuelle Beweis in Person, dass Reichtum von politischem und gleichzeitig persönlichem Nutzen ist. Musk gegenüber läuft der biblische Prediger mit seinen frommen Sprüchen ins Leere. Geld regiert die Welt.
Gerade weil diese Tatsache im Moment zu oft unverrückbar erscheint, brauchen wir eine andere Vision der Welt. Eine, in der Mächtige wieder vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht werden. Eine, in der Hungrige beschenkt werden und Reiche leer ausgehen.
Wir erzählen einander am Tisch Geschichten von Menschen, die ohne grosse Ressourcen Mutmachendes wagen. Zum Beispiel die Bergbevölkerung am Ort mit ihrem Solarskilift, mit ihrem kleinen Hospiz für alte und kranke Menschen, mit kreativem Anbau alter Getreide- und Kartoffelsorten, von denen Menschen satt werden. Wir löffeln unsere Gerstensuppe aus und bezahlen. Die junge Kellnerin trägt ein Designer-T-Shirt mit dem Aufdruck «Gast auf Erden».

Von: Matthias Hui

27. Februar

Dient dem HERRN von ganzem Herzen. Und weicht nicht ab; folgt nicht denen, die nichts sind, die nichts nützen und nicht retten können, denn sie sind nichts! 1. Samuel 12,20–21

Von ganzem Herzen. Nicht halbherzig. Ganz. Nicht halbbatzig.
Ich möchte ganz lieben können – und auch als ganze Person geliebt werden. Ich möchte ganze Empathie zeigen, ganz da sein, ganz trösten – und auch ganz getröstet werden. Ich möchte nicht abweichen, mich nicht halb wegducken. Ich möchte mit anderen zusammen eine Vision verfolgen, die der ganzen Welt nützt, die alle Lebewesen rettet – nicht eine, die vielleicht so halbwegs ein bisschen hilft. Ich will den Krieg ganz weg und den Hunger und die rassistische und die geschlechtsspezifische Gewalt. Ich möchte ganz und nicht halb wach sein, wenn sich etwas Bahnbrechendes tut, wenn, um es in alter Sprache zu sagen, etwa der Messias kommen sollte. Die Gläser, mit denen wir auf das Leben anstossen, sollen ganz und nicht halb voll sein.
Ich scheitere immer wieder. Aber ich bitte mit Bruder Klaus:
Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir, was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.

Von: Matthias Hui

26. Februar

Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weisst nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist. Johannes 3,8

Es gibt Zeiten, da zeichnen sich, für viele sichtbar, bahnbrechende Veränderungen in der Welt ab. Es gibt Zeiten, da tun sich die Himmel auf, und das Leben auf der Erde wird ein bisschen besser. Und es gibt andere Zeiten, dunklere, schwarze. Was uns dann bleibt, ist, innerlich bereit zu werden für wieder andere Zeiten, für den Wind.
Mohammed Zaqzooq ist ein Autor aus Gaza. Seine Stimme soll hier Raum erhalten: «In mir wuchs der Wunsch, meinen Körper in das Meer zu tauchen. Meinen Körper, der nach langen Nächten des Terrors von Angst vollgesaugt und vor Anspannung entstellt war. Ich ging auf das Meer zu, der Wind presste gegen mein Gesicht, meine Stirn. Sobald das Wasser meine Füsse berührte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Und dann, innerhalb einer Sekunde, warf ich diesen erschöpften Körper ins salzige Wasser. Ein Körper, der schwer geworden war, heruntergedrückt von Lasten, wurde nun vom Wasser leichter gemacht. Hochgehoben, getragen, mit geschlossenen Augen und mit Ohren, die das Rauschen des Meeres aufnahmen. Als das Wasser mich trug, mich anhob, schaute ich auf, an einen blauen, flugzeugleeren Himmel. Und eine lange Stille legte sich auf alles – als ob es nicht nur ein Meer wäre.»

Von: Matthias Hui

6. Dezember

Ach HERR, siehe, du hast Himmel und Erde gemacht
durch deine grosse Kraft und durch deinen
ausgereckten Arm, und es ist kein Ding vor dir
unmöglich.
Jeremia 32,17

Vor 500 Jahren lag gerade für kleine Menschen (für den
«gemeinen Mann») dort, wo die Atmosphäre von der Reformation
durchtränkt war, Grosses in der Luft. Der reformatorische
Mystiker und Bauernführer Thomas Müntzer nahm
den biblischen Satz «Es ist bei Gott kein Ding unmöglich»
auf. Durch die Menschwerdung Christi seien die Menschen
ganz und gar in ihn verwandelt, «auf dass sich das irdische
Leben schwinge in den Himmel». Ganz in der Nähe der heutigen
Boldern predigte 1525 der Pfarrer von Hombrechtikon
in Sorge um die Armen gegen die Last des Zehnten ähnlich.
Auch für ihn war bei dem im Bibelstudium neu entdeckten
Gott kein Ding mehr unmöglich. Er sei keiner Autorität
Rechenschaft schuldig, sondern wolle sich allein «verantwurten
mit der göttlichen geschrift». Der Landvogt wollte
den widerständigen Pfarrer verhaften lassen. Dessen Frau
vermochte durch spontanes Glockenläuten und alarmierte
Gemeindeglieder die Gefangennahme zu verhindern. Darauf
bat der Landvogt die Gnädigen Herren in Zürich «die
unghorsamen ghorsam machen, wen ir mir wend helfen».
Aber: Konnten und können Obrigkeiten die Möglichkeit
unmöglicher Dinge blockieren und den Geist des Evangeliums
vollständig zurück in die Flasche zwingen?

Von: Matthias Hui