Schlagwort: Chatrina Gaudenz und Lars Syring

20. Oktober

Wiederum führte der Teufel Jesus mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Matthäus 4,8–10

Das Wort «Satan» heisst in seiner hebräischen Herkunftssprache «Ankläger». Martin Buber (1878–1962) übersetzte das Wort mit «Hinderer». Die rabbinische Literatur der ersten nachchristlichen Jahrhunderte hat «Satan» immer wieder eingesetzt, um den Bibeltext in spezifische Kontexte zu setzten. Dabei wurde «Satan» immer weniger als äussere Kraft oder Gestalt gelesen, sondern als Personifizierung innerer Widerstände. Kämpft Jesus auf dem sehr hohen Berg mit den Möglichkeiten seiner Macht?


Ich denke schon. Jesus wird in der Wüste zum Christus. Er besteht sein «Glaubensexamen». Seine religiöse Ausbildung ist vorläufig abgeschlossen. Nun muss sich im Alltag bewähren, was er gelernt hat. Jetzt geht es in die Praxis. Und dann kann er der werden, der er ist. Kann sein Potenzial entfalten. Der Losungstext bricht früh ab. Er verschweigt, wie es weitergeht. Jesus hat noch einen Trumpf im Ärmel. Er sagt: «Zu JHWH, deinem Gott, sollst du beten und ihm allein dienen.» Das könnte die finale Überwindung des Narzissmus sein: Ich nehme mich aus dem Zentrum. Der Platz gebührt Gott. Das macht mich frei, über mich selbst hinaus zu wachsen. Hin zu dem, der meines Lebens Quelle ist.

Von: Chatrina Gaudenz und Lars Syring

20. September

Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen,
denn du bist mein Gott; dein guter Geist führe
mich auf ebner Bahn.
Psalm 143,10

Kein Tag, keine Stunde vergeht, da Gott nicht angerufen wird. In tausend Sprachen, aus tausend Nöten und hie und da vielleicht auch aus purer Freude und Dankbarkeit: Halleluja! Lobet seinen heiligen Namen! Stimmen erheben sich: bitten, flehen, fragen, singen, danken. Hände falten sich und beten. Mir gefällt die Vorstellung, dass diese Stimmen und Hände sich finden und einander im Glauben «denn du bist mein Gott» stärken und zur Hoffnung «dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn» ermutigen.

Amen, Chatrina! Du sprichst mir aus dem Herzen. In einer Fotoausstellung habe ich neulich eine Montage gesehen, die aus Dürers «Betenden Händen» Hände gemacht hat, die sich ein «High five» geben, die sich abklatschen. Wer seine Hände nach dem Gebet wieder öffnet, ist bereit für neue Begegnungen. «Die Hände, die zum Beten ruh’n, die macht er stark zur Tat. Und was der Beter Hände tun, geschieht nach seinem Rat», dichtete Jochen Klepper in seinem Mittagslied. Damit gehe ich heute durch den Tag!

Von: Chatrina Gaudenz und Lars Syring

20. April

Christus spricht: Ich war tot, und siehe,
ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und
habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.
Offenbarung 1,18

Die Offenbarung fordert uns heutige Leserinnen und Leser mit einer starken Sprache heraus. «Der Lebendige spricht: Ich war tot und siehe, ich lebe in alle Ewigkeit und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt.» Dieser Vers ist eingebettet in eine Vision. Der Autor sieht eine imposante Gestalt, umgeben von Leuchtern, Farben, Geräuschen, Lichtern, Feuern, Gluten und Sternen. Sie legt ihre Hand auf ihn und bekräftigt seinen Auftrag, zu schreiben. Sie ergänzt: «Fürchte dich nicht!» Zahlreiche Menschen in der Bibel fürchten sich an Ostern. Wie geht es dir, Lars, heute mit Furcht und Angst?


Das ist schwer zu sagen. Ich weiss ja schon, wie die Geschichte weitergegangen ist. Insofern steht für mich die Angst heute nicht an erster Stelle. Ich freue mich einfach. Singe im Gottesdienst gerne das Halleluja mit. Klinke mich ein in den Strom derer, die heute auf der ganzen Welt einstimmen in diesen Jubel. Der Karfreitag liegt hinter uns. Das neue Leben ist da. Schwieriger wird es dann, wenn ich merke, dass der Karfreitag manchmal doch noch ziemlich präsent ist. Dass Menschen leiden, unendlich traurig sind. Ich wünsche mir, dass sie die Erfahrung des Lebendigen teilen und eines Tages seine Worte mitsprechen können.

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring

21. März

Es entstand auch ein Streit unter den Jüngern, wer
von ihnen als der Grösste gelten könne. Jesus aber sagte zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Macht über sie haben, lassen sich als Wohltäter feiern. Unter euch aber soll es nicht so sein, sondern der Grösste unter euch werde wie der Jüngste, und wer herrscht, werde wie einer, der dient.
Lukas 22.24–26

Kain erschlägt seinen Bruder Abel ganz am Anfang der Bibel. Er hat Angst, zu kurz zu kommen, und blickt neidisch auf seinen Bruder. Das sitzt offenbar ganz tief drin in uns Menschen. Angst und Neid. Dasselbe bei den Jüngern Jesu. Ausgerechnet sie! Sie sind doch schon so lange mit Jesus mitgegangen und hätten eigentlich die neue Wirklichkeit, die Jesus gelebt hat, besser verstanden haben können. Und trotzdem streiten sie sich im Jesus-Team.


Sind es Angst und Neid, die tief in uns drinsitzen? Oder fehlt uns das Mitgefühl? Ein empathisches Bewusstsein für die Wirklichkeit der Welt und meiner Mitmenschen ist schwer auszuhalten. Jesus ging den Weg des Mitgefühls und des Selbstmitgefühls. Vielleicht können wir diesen Weg mit ihm entdecken? Nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder. Wie du und ich wurde er von einer Frau geboren, wuchs heran, war mit Gefährtinnen und Gefährten auf den Strassen seiner Heimat unterwegs; war hungrig, durstig, traurig, fröhlich, verzweifelt, erschöpft und sterbend.

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring

20. März

Wenn ich dich anrufe, so erhörst du mich
und gibst meiner Seele grosse Kraft.
Psalm 138, 3

Gott wird gerne angerufen. Immer wieder fordert er uns in den Psalmen auf, nicht unbedingt zum Hörer oder Handy zu greifen, aber doch irgendwie in Kontakt zu treten. (Psalm 50,15
die Telefonnummer Gottes: «Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.») Der Mensch, der Psalm 138 gebetet hat, weiss um die Konsequenzen. Er hat erfahren, dass Gott hört. Leider verrät er uns nicht, woran er das gemerkt hat. Vielleicht ist das aber auch gar nicht wichtig. Er hat ja die Folgen gespürt. Die grosse Kraft, die ihn erfüllt. Die Seele, die wieder mutig wird. Die Hoffnung, die keimt.


Die Psalmen sind religiös inspirierte Dichtung. Ihre Anfänge reichen mindestens drei Jahrtausende zurück. Dank ihren starken Sprachbildern und die in ihnen verdichteten Glaubenserfahrungen können sie mir Kraft, Trost, meiner Wut und Enttäuschung Raum, meiner Unsicherheit und meinem Zweifel Boden geben. Die Psalmen können mir helfen, «aus der Tiefe» Worte in den Himmel hinaufzuschicken. Die chassidische Tradition hat dieses Geheimnis in dem Ausruf zusammengefasst: «Verlasst euch nicht auf Wunder, rezitiert Psalmen!» Denen, die Psalmen rezitieren, geschieht, dass sie sich Gott aussetzen.

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring

21. Januar

Erhalte mich nach deinem Wort, dass ich lebe,
und lass mich nicht zuschanden werden in meiner Hoffnung.
Psalm 119,116

Seine Psalmen seien keine Lieder, schreibt der Schriftsteller Uwe Kolbe. Und auch keine Gebete, fügt er an. Kolbe nennt seine Dichtungen: «Worte eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?» Ein Gedicht trägt die Überschrift «an dich». Es erinnert mich an unsere heutige Losung: «Du hast mich gemacht, du kannst mich zerstören. Du hast mich aufgemacht, du kannst mich wieder schliessen. Es gibt nichts zu murren, nicht dass du das meinst. Lass nur den Weg mich, der noch bleibt, an deiner Hand zu Ende gehen.»


«Lass nur den Weg mich, der noch bleibt, an deiner Hand zu Ende gehen.» Stark! Die Hand Gottes, die uns greifbar ist, ist sein Wort, oder? Das Wort des Lebens. Das Wort, von dem Gott empfiehlt, dass wir es uns zu Herzen nehmen (5. Mose 6,6). Dort entwickelt es seine Kraft. Und dieses Wort sollen wir unseren Kindern weitergeben (5. Mose 6,7). Also weitergeben, was uns selbst so überlebenswichtig ist. Unsere Kinder mit hineinwachsen lassen in die Hoffnungsgemeinschaft, die Gott seinen Kindern eröffnet. Selig ist der Mensch, der in den dürren Zeiten seines Lebens Teil so einer Hoffnungsgemeinschaft ist. Manchmal bleiben nur noch Gott und ich, wir zwei.

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring

20. Januar

Der HERR wird dein ewiges Licht und dein Gott
wird dein Glanz sein.
Jesaja 60,19

Was für eine überwältigende Zuversicht. Eindringlich kommt mir entgegen: Gott wird dein Licht und dein Glanz sein. Dem Volk Israel vor zweieinhalbtausend Jahren zugesagt. Elementare Worte des Trostes, eine lichte Stimme der Hoffnung. Nach der Verwüstung des Landes durch ein fremdes Heer, der Deportation von Dutzenden, nach der Gefangenschaft die Zusage: Gott wird dein Licht und dein Glanz sein. Magst du dich von diesen starken Worten des Propheten Jesaja anstecken lassen, Lars?


Sehr gerne! Und mich fasziniert auch die erste Hälfte des Verses, den die Losung ausgespart hat: «Nicht mehr wird die Sonne für dich Licht sein am Tag, und nicht der Mond wird als Lichtglanz für dich leuchten.» Das Licht, das Gott uns bringt, ist ein anderes Licht, als wir es im Alltag kennen. So leuchtet auch keine noch so moderne Lampe. Es ist das Licht, das Gott ganz am Anfang gemacht hat (1. Mose 1,3) und das Licht, das in der Verklärungsgeschichte (Markus 9,3) leuchtet. Ich sehne mich nach diesem Licht, das alles verändert und mir die Augen öffnet für Gottes Wirklichkeit, die mich ins Leben ziehen will. Was für Zion gilt, wird doch auch für uns gelten. Das legt die Losung nahe. Gott ist mein ewiges Licht. Gott wird mein Glanz sein.

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring

15. November

Du hast gesehen, wie dich der HERR, dein Gott,
getragen hat, wie ein Mann seinen Sohn trägt, auf
dem ganzen Wege, den ihr gewandert seid.
5. Mose 1,31

Es wird getragen in dieser Bibelpassage, wie schön. Gott wird
mit einem Mann verglichen, der seinen Sohn trägt. Ich stelle
mir vor, dass dieses Kind schon ein bisschen grösser ist. Der
Mann trägt es eine lange Zeit. Sie wandern zusammen. Auch
Frauen tragen Kinder. Sie tragen sie bereits vor der Geburt.
Kleine wachsende Wesen in ihrem Bauch. Mit ihnen sind sie
neun Monate unterwegs. Frischgeborene werden auch gerne
von Frauen getragen, gestillt, gehalten. Töchter und Söhne.
Später dann, wenn die Kinder etwas grösser sind, kommen
auch die Väter zum Einsatz.


Einspruch! Mangels Gebärmutter habe ich meine Kinder
zwar nicht vor der Geburt getragen, aber schon unmittelbar
danach. Gerne und oft. Nicht erst später. Ich weiss noch gut,
wie ich meinen Sohn im Tragetuch hatte. Manchmal über
Stock und Stein. Manchmal so lange, bis er sich wieder beruhigt
hatte. Ich habe ihm vorgesungen. Alle sieben Strophen
von «Der Mond ist aufgegangen». Diese Momente der Nähe
waren und sind mir wichtig.
Und ich liebe dieses Bild, dass Gott mich trägt. Dass ich
bei Gott geborgen bin. Und ich stelle mir vor, für Gott ist das
ähnlich schön wie für mich damals. Selbstverständliches
Dasein. Unmittelbare Nähe. Herz an Herz.

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring

14. November

Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel
und die Erde und alles, was darinnen ist, das ist
des HERRN, deines Gottes.
5. Mose 10,14

«Der Himmel und aller Himmel Himmel sind deines
Gottes.» So viel Himmel, Lars. Kannst du dir diese Himmel
in der Mehrzahl vorstellen? Martin Buber übersetzt: «Die
Himmel und die Himmel ob den Himmeln». Mir gefallen
diese Verstärkungen im Hebräischen. Sie bedeuten doch:
Alles, wirklich alles, was ist, ist Gottes – ist sein. Kann ich
dies irgendwie begreifen? Eine Kurzgeschichte von Hugo
von Hoffmannsthal kommt mir in den Sinn. Das kluge Kind:
«Kannst du einen Stern anrühren?», fragt man es. «Ja», sagt
es, neigt sich und berührt die Erde.

Ich kann mir das nicht so richtig vorstellen. Ein Aha-Erlebnis
war für mich aber, dass Gott im ersten Vers der Bibel die (!)
Himmel und die Erde erschafft. Himmel sind in der Überzahl!
Paulus war ein Himmelsreisender, der mehr hätte erzählen
können. Er hat es immerhin bis in den dritten Himmel
geschafft (2. Korinther 12,2). Ob das im oder ausserhalb des
Leibes geschehen ist, will er nicht verraten. Es reicht ihm,
dass Gott es weiss.
Wie weit wir auch reisen, ob in den Himmeln, auf der Erde
oder in die Tiefen der Erde: Es ist alles Gottes. Und nichts
davon wird uns trennen von Gottes Liebe. Da nimmt uns
unser Reiseführer Paulus die Angst (Römer 8,38 f.).

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring

29. September

Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst. 3. Mose 19,34

Was für eine Aufforderung, Lars! In einer vorkapitalistischen, archaischen Gesellschaft entscheidet sich ein Volk, den Fremden zu lieben. In unserer durchstrukturierten, technologisierten Gesellschaft entscheiden wir im Moment gerade wieder, den Fremden zu hassen. Rechtsaussenparteien siegen bei der Europawahl, und der Antisemitismus flammt wieder einmal auf. Was also tun? Die Bibel sagt: Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst. Paradoxerweise können wir uns selbst nur helfen, wenn wir dem Fremden helfen. Die Voraussetzung für unser Überleben sind die Liebe und das Mitgefühl für den anderen. Den Menschen in der Antike war dies klar.


Warum fällt es uns denn so schwer, den Fremden zu lieben? Ist das das alte Spiel von Angst und Neid? Wir haben Angst vor allem, was wir (noch) nicht kennen. Sehen im Fremden die Anteile, die wir bei uns selbst bekämpfen? Unsere eigene Unsicherheit in der Fremde. Unsere Unbeholfenheit. Oder die Angst, zu kurz zu kommen. Die Angst, eigentlich ganz anders sein zu wollen, als wir es uns zugestehen? Oder der Neid, zu sehen, dass ein anderes Leben möglich wäre? Dass es einen Neuanfang geben könnte? Dass der Fremde mehr Möglichkeiten hat als ich selbst? Mir etwas wegnehmen könnte? Ich vermute, es fällt uns so schwer, den Fremden zu lieben, weil wir uns selbst nicht lieben können.

Von: Chatrina Gaudenz / Lars Syring