Autor: Lars Syring und Chatrina Gaudenz

21. September

Boas zeugte Obed; die Mutter war Rut. Obed zeugte Isai. Isai zeugte den König David. Jakob zeugte Josef, den Mann von Maria. Sie wurde die Mutter von Jesus, der Christus genannt wird. Matthäus 1,5.6.16

Wir haben uns nicht selbst hervorgebracht. Wir haben Eltern, die selbst auch Eltern hatten. Wir sind nicht unbedingt das Ergebnis, aber doch irgendwie der Zwischenstand einer langen Kette von Menschen. Wer sind die ältesten Familienmitglieder, an die du dich erinnern kannst? Haben dir deine Grosseltern von ihren Grosseltern erzählt? Ich habe eine Urgrossmutter kennen gelernt. Sie sass bei unseren Festen im Sessel wie ein Wesen aus einer ganz anderen Zeit.

Je älter ich werde, desto faszinierender finde ich die Auseinandersetzung mit Vorfahren und ihrer Art und Weise, in der Welt zu sein. Wie gingen sie mit der Endlichkeit um? Was war ihnen ein Fundament im Leben? Die heutige Losung lädt die Leserin in die Geschichte Davids und Jesu ein. Sie wiederum hatten beide eine Geschichte mit Gott – oder Gott mit ihnen. Will ich heute am Bettag mit einer dieser Geschichten mitgehen? Ihr zuhören? Schauen, was dieser Pfeil aus der Vergangenheit mit mir macht? Will ich meine Lebensgeschichte in ihre Art und Weise, in der Welt zu sein, einfügen? Oder lieber nicht?

Von: Lars Syring und Chatrina Gaudenz

20. August

Nur Hauch sind die Menschen, Trug die Sterblichen. Auf der Waage schnellen sie empor, allesamt leichter als Hauch.
Psalm 62,10

Der Psalm 62 setzt mit den Worten ein: «Zu Gott allein ist meine Seele still.» Welche Erfahrung geht diesen Worten voraus? Ich lese weiter und komme zum heutigen Vers. Er erinnert mich an die Psalmworte: «Wir sind nur ein Hauch» (Psalm 39,12), «haben kein Gewicht» (Psalm 62,10), «sind Staub» (Psalm 103,14). Sucht da eine mitten in der Vergänglichkeit ihres Lebens, mitten in der Fülle und den Abgründen, die einsam machen können, nach einem Gegenüber, das ihr Schwerkraft verleiht? Boden unter den Füssen gibt? Und sie dadurch still werden lässt?
Für alle, die noch nicht ganz ihre Bikinifigur erreicht haben, klingt das ja ziemlich verlockend. Leichter als ein Hauch. Und für alle, die sich so unendlich (schwerge-)wichtig nehmen, ist es der blanke Horror. Ich bin sehr zufrieden mit dieser Leichtigkeit. Sie entwickelt sich in der Stille vor Gott. Weil mir da immer klarer wird, dass ich weder mein Körper noch meine Gefühle noch meine Gedanken bin. Vor Gott bin ich ganz Gottes. Das nimmt mir die Last und macht mich leicht und licht. So weht es mich sanft zu Gott hinüber.

Von: Lars Syring / Chatrina Gaudenz

21. Juli

Friede, Friede denen in der Ferne und denen in
der Nähe, spricht der HERR; ich will sie heilen.

Jesaja 57,19

Endlich Frieden. Sofort. Ich wäre dabei! Du auch, oder? Das
ist ja eine uralte Sehnsucht. Und wir schaffen es doch nicht.
Es scheint so schwer, in Frieden miteinander zu leben. Im
Kleinen wie im Grossen. In der Nähe wie in der Ferne. Dabei
wissen doch alle Beteiligten nach den Erfahrungen der vergangenen
Kriege: Es wird keinen Sieger geben. Selbst auf der
Seite der angeblichen Gewinner gibt es unzählbare Opfer zu
beklagen. Was ist nur los mit uns? Kriegen wir es wirklich
nicht hin, in Frieden miteinander zu leben? Und wie kann
Gott uns heilen? Hast du eine Idee, Chatrina?


Nein, Lars. Ich habe keine Idee. Aber ein Lied kommt mir in
den Sinn. Da fragt einer weiter: Warum gibt es unsere Erde?
Warum kreist um sie der Mond? Warum dreht sie um die
Sonne ihre Bahn? Warum hat der Mensch das Glück, dass er
auf dieser Erde wohnt? Warum fühlen wir inneren Frieden,
wenn wir Kinder schlafen sehen? Warum ist ein Tag am Meer
so tröstend schön? Warum rührt Musik uns oft zu Tränen?
All das würde ich so gerne mal verstehen. Warum nutzt
man Religionen für den Terror und die Angst, wo sie eigentlich
doch für den Frieden stehen? Ich kann es beim besten
Willen nicht verstehen.

Von: Lars Syring und Chatrina Gaudenz

20. Juli

Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heissen
nach deinem Namen; verlass uns nicht!
Jeremia 14,9

Die grosse Dürre steht Jeremia vor Augen. Alles dürstet,
Mensch, Tier, Erde. Und alles, was da wachsen möchte. Und
im Ächzen und Stöhnen flehen sie zu Gott. Mir scheint, das
ist heute auch unsere Situation in der Kirche. Die Dürre ist
gross. Die Ratlosigkeit auch. Das Losungsbuch der Herrnhuter
Brüdergemeine führt mit Zinzendorf, ihrem Gründer und
«Erfinder» der Losungen, zum Gebet: «Du inniglich geliebtes
Haupt, wir wolln dich etwas bitten, du hast’s den Deinen
ja erlaubt, ihr Herz dir auszuschütten: Mach uns zu deiner
treuen Schar und lass die Welt erkennen, dass wir uns doch
nicht ganz und gar mit Unrecht Christen nennen.»


Ich staune immer wieder über Jeremias Vertrauen – trotz
allem. Er fleht, klagt, seufzt und bezeugt gleichzeitig: «Du
bist ja doch unter uns, Herr, und wir heissen nach deinem
Namen!» Da dreht sich einer nicht resigniert um und lässt
alles den Bach runtergehen, sondern erhebt seine Stimme.
Ob wir, um der Dürre und Ratlosigkeit in unserer Kirche
zu entkommen, zu einem pietistischen Gebet greifen sollten?
Mir ist das zu steil. Etwas klarer und deutlicher unsere
Stimme erheben und verständlich Farbe bekennen reicht
mir fürs Erste.

Von: Lars Syring und Chatrina Gaudenz

20. Juni

Wende dich zu mir und sei mir gnädig;
denn ich bin einsam und elend.
Psalm 25,16

Knapp eine halbe Millionen Menschen in der Schweiz sind
einsam. Sie leiden darunter. Verlieren den Mut, haben irgendwann
Angst, die Wohnung zu verlassen. Da hilft es
nicht, ihnen viele Angebote aufzuzeigen, die sie besuchen
könnten. Sie schaffen es nicht. Die Schwelle ist zu hoch. Helfen
würde, sie einzuladen und zu sagen: «Komm, das ist eine
tolle Sache. Da gehen wir zusammen hin. Ich hole dich ab.»
Und dann auch tatsächlich da sein. Mitgehen. Sie vielleicht
vorher noch mal sicherheitshalber anrufen und sagen: «Ich
komme gleich. Und ich freue mich, dich zu sehen.»

Ein ehrenwerter Vorsatz, lieber Lars. Ja, wir müssen etwas
tun alle zusammen. Lass mich trotzdem nochmals zur Klage
zurückkehren. Was mich für sie einnimmt, ist, dass da ein
Mensch an Gott festhält. Auch im Dunkel und im Rätsel
der Verlassenheit schickt er Worte «aus der Tiefe» in den
Himmel. Neben den Mitmenschen, der Hundertschaft an
Therapeuten und Seelsorgerinnen wünsche ich mir diese
Tiefe, diese trotzige, widerständige Zuversicht biblischer
Klage zurück: «Hey, warum hast du mich verlassen? Wende
dich zu mir, sei mir gnädig. Das ist schliesslich dein Job.»

Von: Lars Syring und Chatrina Gaudenz

21. Mai

Fürchte dich nicht, Zion! Lass deine Hände
nicht sinken! Denn der HERR, dein Gott, ist bei dir,
ein starker Heiland.
Zefanja 3,16–17

Wenn wir bei den Ferienspielen – einem Angebot unserer
Kirchgemeinde für Kinder von der 1. bis 6. Klasse – mit den
Kindern eine Nachtwanderung machen, ist es auch für mich
etwas gruselig. Wir sind ohne Taschenlampe unterwegs. Im
Wald setze ich behutsam einen Fuss vor den anderen. Vorsichtig
ertaste ich meinen Weg durch die niedrig hängenden
Zweige. Ab und zu fragt ein Kind, ob es meine Hand halten
darf. Manchmal ist es draussen zu dunkel für einen allein.
Es ist gut, dass wir einander haben. Gegen die Unsicherheit.
Gegen die Angst. Danke, Gott, dass auch du da bist.

Vorgestern Abend – es war schon dunkel – traf ich mich
mit zwei Frauen in einer kleinen Kirche auf einem Berg. Wir
stimmten ein in den grossen Gesang des Friedens. Wir sangen
Lieder aus verschiedenen Religionen und Kulturen, erinnerten
uns im Gebet und in der Stille, dass wir Menschen
in Liebe und Mitgefühl miteinander verbunden sind. Ich
fühlte mich geborgen, getragen vom Ort und von den Stimmen.
Wenn ich nachts allein unterwegs bin, singe ich gerne
gegen die Angst an: «Bless the Lord, my soul, and bless God’s
holy name. Bless the Lord, my soul, who leads me into life.»
(Psalm 103,1–2)

Von: Lars Syring / Chatrina Gaudenz

20. Mai

So spricht der HERR: Ich habe dein Gebet gehört
und deine Tränen gesehen. Siehe, ich will dich gesund
machen.
2. Könige 20,5

Endlich! Gott hat mich gesehen. Meine Tränen, mein Leid.
Alles, was mich beschäftigt, was mir auf dem Herzen liegt. Ich
habe es vor Gott gebracht. Immer wieder. Und jetzt, endlich,
hat er mich gehört. Erhört. – Aber das heisst noch nicht, dass
es jetzt sofort besser wird. Ich werde wohl weiterhin Geduld
haben müssen. Meistens braucht es Heilungszeit. Das geht
nicht von jetzt auf gleich. Nach und nach werde ich gesund.
Langsam geht es besser. Doch selbst wenn die Wunden verheilen:
Narben bleiben.

Ich blättere gerade im Gedichtband «Ortlose Nähe» von
Erika Burkart, als deine Zeilen mich erreichen, lieber Lars.
Darf ich dir heute mit einem Gedicht von Erika Burkart antworten?
Es heisst «Die Häutung»:

Schale um Schale
und Haut um Haut.

Wie man litt zeitlebens
an seinem verborgensten
Korn.

Von: Lars Syring / Chatrina Gaudenz

20. Februar

Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Lukas 18,7

Jesus erzählt seinen Leuten ein Gleichnis. Er will ihnen zeigen, «dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollen» (Vers 1). Und dann kommt die Geschichte vom ungerechten Richter, der einer Witwe nur deshalb Recht verschafft, weil sie ihn nervt. Immer wieder kommt sie zu ihm und bedrängt ihn. Sie besteht auf ihrem Recht. Und das ist ihr gutes Recht! Als er Angst bekommt, dass sie handgreiflich wird, lenkt er ein. Heisst das jetzt, dass ich Gott so lange nerven soll, bis ich zu meinem Recht komme? Das kann ich mir nicht vorstellen.


Wie würdest du Gott nerven wollen, Lars? Wie geht das, Gott nerven? Ich kann mir das nicht vorstellen. Auch frage ich mich, ob die Auslegung des Gleichnisses Jesu nach Vers 1 wirklich die einzig mögliche ist … Das Schöne an der heutigen Losung finde ich, dass sie als Frage formuliert ist; okay, als rhetorische Frage, die zwischen den Buchstaben zum Himmel schreit: Doch, doch, Gott wird denen, die Tag und Nacht zu ihm rufen, Recht schaffen! Aber als Losung ist und bleibt der Vers eine Frage. Vielleicht wird er, vielleicht auch nicht. Und überhaupt: Wann lieben, schlafen, träumen und umarmen sich die, die Tag und Nacht zu Gott rufen?

Von: Lars Syring und Chatrina Gaudenz

29. November

Jesus spricht: Wenn ihr meine Gebote haltet,
bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters
Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe.
Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude
in euch sei und eure Freude vollkommen werde.

Johannes 15,10–11

Jesus spricht von «meinen Geboten». Was meint er? Hat er
eigene? Jenseits der Thora? In meinem Konfspruch spricht
Jesus von einem «neuen» Gebot (Johannes 13,34): «Ein neues
Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander so liebt, wie
ich euch geliebt habe.» Jesus spricht auch von den Geboten
seines Vaters. Er akzentuiert die Perspektive. Die Liebe ist
Voraussetzung und Ziel der Gebote. Die Gebote sind nicht
Selbstzweck, sondern dienen der Liebe.


Einverstanden. Die Liebe ist Voraussetzung und Ziel der
Gebote. Aber was ist die Liebe genau? Mir fällt es schwer,
dieses so oft gebrauchte Wort kommentarlos stehen zu lassen.
Ist die Liebe ein Gefühl? Ist die Liebe eine Entscheidung?
In einem Gedicht von Reiner Kunze, das mich seit ein paar
Jahren begleitet, ist die Liebe Sehnsucht:
Du weisst zur Stunde ihn an fernem Ort.
Mit dem Verstand begreifst du seine Ferne.
Es liegen zwischen dir und ihm ein Himmel Sonne
und ein Himmel Sterne.
Und doch trittst du ans Fenster – immerfort.

Von: Lars Syring und Chatrina Gaudenz

29. Juli

Der HERR, unser Gott, neige unser Herz zu ihm,
dass wir wandeln in allen seinen Wegen.
1. Könige 8,58

Salomo betet bei der Einweihung des Tempels. Wohl dem
Volk, dessen Staatschef nicht nur sich selbst als Referenzgrösse
kennt. Salomo weiss, dass nicht alles in seiner Hand
liegt. Er kennt die Verantwortung vor Gott. Und er weiss,
dass er diese nur wahrnehmen kann, wenn Gott irgendwie
mithilft. In einem langen Gebet folgt er der Spur, die ihm
die Tora legt. Und er vertraut darauf, dass Gott sein (Salomos)
Herz zu sich neigt. Das Herz ist das Organ, das für die
Menschen der Bibel die Verbindung zu Gott pflegt. Salomo
möchte Gott näherkommen. In eine engere Verbindung mit
ihm treten, damit sein Schritt sicherer wird.


Gebete sind immer ein Eingeständnis unserer Begrenztheit.
Wir spüren, dass wir nicht alles unter Kontrolle und im Griff
haben, und legen das, was nicht in unserer Macht ist, in Gottes
Hand. Wir greifen über den Horizont der eigenen Existenz
hinaus, richten uns aus auf ein Gegenüber, das grösser ist
als wir selbst. Ich vermisse diesen uralten Reflex in unserer
selbstverliebten Gegenwart. Sich einen Moment Zeit nehmen,
das Gespräch mit dem Innersten suchen, das, was da
inwendig auftaucht, hervorholen und es Gott anvertrauen:
Das tut gut, und mancher Schritt, der zunächst undenkbar
schien, wird möglich.

Von: Lars Syring und Chatrina Gaudenz