Autor: Felix Reich

23. Februar

Jesus stand auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es ward eine Stille. Er sprach aber zu den Jüngern: Wo ist euer Glaube? Lukas 8,24–25

Als Jesus schläft, zieht ein Sturm auf. Die Jünger kommen ohne ihn nicht zurecht und wecken ihn. Jesus bedroht Wind und Wogen, die Naturgewalten kuschen vor seiner Macht. Jesus, der später am Kreuz die Ohnmacht bis in den Foltertod durchleidet, zeigt sich hier als allmächtiger Gebieter über die Elemente. «Wer ist denn dieser?» (Lukas 8,25), fragen staunend und ängstlich die Jüngerinnen und Jünger. Es ist die Frage, die das Evangelium durchzieht: Jesus provoziert und heilt, leidet und tut Wunder, poltert und verzeiht, weist den Sturm in die Schranken und ist der Gewalt ausgeliefert. Der Tadel, wo ihr Glaube geblieben sei, irritiert nach dem, was geschehen ist. Offensichtlich ist es doch richtig gewesen, Jesus zu wecken, denn er bewahrt das Boot ja tatsächlich vor dem Untergang. Und haben die Jüngerinnen und Jünger nicht gerade ihren Glauben bewiesen, indem sie ihn zu Hilfe gerufen haben? Sie glauben daran, dass Jesus sie vor der Gefahr schützt. Und sie haben erkannt, dass es nicht in ihrer Hand liegt und sie gegen Sturm und Wellen nicht ankommen können. Aber vielleicht ist der Satz auch weniger Tadel als Irritation. Ein Aufruf, immer wieder neu eine Antwort zu suchen auf die Frage, wo der eigene Glaube, die Hoffnung, dass der Sturm sich irgendwann legt, eigentlich verankert ist.

Von: Felix Reich

29. Dezember

Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter
dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn
hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
Matthäus 8,20

An Weihnachten finden Maria und Joseph keine Herberge.
Sie haben keine Bleibe auf ihrer Reise. Erst in einem Stall
findet das Paar Zuflucht, wo der Messias zur Welt kommt.
Kurze Zeit später ist die junge Familie auf der Flucht. Mit
Armut und Vertreibung beginnt das Leben Jesu.
Später will sich ein Schriftgelehrter dem Wanderprediger
anschliessen: «Meister, ich will dir folgen, wohin du auch
gehst.» (Matthäus 8,19) Jesus antwortet schroff: Ohne Preisgabe
der Sicherheit sei die Nachfolge nicht zu haben, nicht
einmal die Nacht bringe Ruhe und Schutz.
Keinen Ort zum Schlafen zu haben, nichts, um den Kopf
abzulegen, ist schrecklich: Der Schlaf ist unruhig und voller
Gefahren. Jesus erklärt eine prekäre Existenz zur Bedingung
der Nachfolge, der Hingabe an Gott und die Menschen.
Die Definition der Nachfolge klingt wie das spiegelverkehrte
Echo auf den Losungstext aus dem Alten Testament: «Der
Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für
die Jungen – deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und
mein Gott.» (Psalm 84,4) Alle sind in Sicherheit und haben
ein Dach über dem Kopf. Nur der menschgewordene Gott
bleibt ohne Bleibe und der Welt schutzlos ausgeliefert.

Von: Felix Reich

30. November

Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all
deiner Kraft.
5. Mose 6,5

Der Mensch könne nicht leben «ohne ein dauerhaftes
Vertrauen in etwas Unzerstörbares», schreibt Franz Kafka
in seinen Zürauer Aphorismen. Allerdings bleibe dieses
Unzerstörbare dem Menschen immer verborgen. «Eine der
Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der
Glaube an einen persönlichen Gott.»
Gott kann im Gebet zum Gegenüber werden und bleibt
dennoch verborgen. Sich ihm anzuvertrauen, ihn zu lieben,
benötigt manchmal tatsächlich alle Kraft. Gebete scheinen
ungehört zu verhallen: der Schrei nach Gerechtigkeit,
das Gebet für den Frieden, der Ruf nach Freiheit. Die Welt
scheint in Flammen zu stehen und der Hass sich auszubreiten,
wie ein Gift. Das Gute, die Hoffnung bleiben verborgen.
Unzerstörbar wirken sie allerdings nicht.
Und dennoch zeigt sich der verborgene Gott: in der Liebe,
im Guten, in allem, was dem Leben dient. Gott lieb zu haben
«von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft»,
bedeutet, die Liebe selbst zu lieben: «Wer nicht liebt, hat
Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe.» (1. Johannes 4,8)
Gott erscheint, wenn Menschen für die Freiheit aufstehen,
wo Knechtschaft herrscht, das Wort ergreifen, wo lähmendes
Schweigen herrscht, Versöhnung leben, wo Hass vergiftet.

Von: Felix Reich

1. November

Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse
uns von dem Bösen.
Matthäus 6,13

Nicht in Versuchung geführt und vom Bösen erlöst zu werden,
habe ich dringend nötig. Dabei geht es im Unservater
nicht um einen Gott, der mich einem Test unterzieht und
meinen Glauben oder meine Treue auf den Prüfstand stellt.
Gott spielt nicht. Gott liebt.
Oft ist es beschwerlich und kostet mich Kraft, das Gute
zu tun. Im Alltag, wenn ich eigentlich weiss, dass ein gutes
Wort statt betretenes Schweigen angezeigt wäre, ein Blick
und eine Spende jetzt richtig wären statt mein achtloses
Vorübergehen, verständnisvolles Zuhören gebraucht würde
statt selbstgerechter Streit. In Gesellschaft und Politik, wenn
der die Ressourcen ausnutzende Lebensstil bequem und der
längst überfällige Verzicht so schwierig erscheint, wenn die
aggressive Ausgrenzung mehr Stimmen verspricht als das
zähe Ringen um das friedliche Zusammenleben.
Und manchmal erkenne ich das Böse gar nicht. Ich merke
nicht, welche Konsequenzen mein Handeln hat. Wer lebt,
wird schuldig: an Mitmenschen, an der Schöpfung, an der
Zukunft. Deshalb ist die Bitte im Unservater, dass Gott mich
vom Bösen erlöse, existenziell. Auf dass Gott mit seiner Liebe
mir die Augen öffnet für das Gute und mir die Kraft gibt, der
Versuchung zu widerstehen und die gute Tat zu vollbringen.

Von: Felix Reich

29. Oktober

Jesus sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart. Matthäus 11,25

An die prophetische Wutrede von Jesus gegen die Städte,
die seine wundertätige Verkündigung abgelehnt haben, schliesst sich abrupt der Lobgesang, der die Hierarchien auf den Kopf stellt. Nicht der religiösen Elite offenbart sich die göttliche Wahrheit, es sind die Unmündigen und Einfältigen, welche die Botschaft des Evangeliums erkennen.
Wahrscheinlich lässt sich das Gebet tatsächlich als Kritik an der Deutungshoheit der religiösen Machthaber lesen. Allerdings glättet diese Interpretation die zentrale Provokation. Denn wörtlich verstanden, stehen nicht nur die Hierarchien kopf. Der Text zieht zugleich hinein in eine verkehrte Welt des Evangeliums, wo sich die Leserinnen und Leser zu den Unmündigen zählen müssen, um zu verstehen. Will ich das? Mündigkeit im Glauben ist doch das Mantra der reformierten Tradition.
Vielleicht gilt es, die Irritation auszuhalten. Sie zwingt mich, mich immer wieder neu ansprechen zu lassen von biblischen Texten und mich auf andere Interpretationen einzulassen. Sie erinnert mich daran, dass ich mich mündig und kritisch mit theologischen Konzepten und Texten auseinandersetzen muss, im Glauben aber stets ein Anfänger bleibe.

Von: Felix Reich

30. September

Abner rief Joab zu: Soll denn das Schwert ohne Ende fressen? Weisst du nicht, dass daraus am Ende nur Jammer kommen wird? 2. Samuel 2,26

Abners Worte sind wahr. Bis heute. Das Schwert ist unersättlich. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Doch wie lässt sich die Spirale der Gewalt durchbrechen? Die Erzählung vom Krieg zwischen dem Haus Davids und dem Haus Sauls liefert keine Antwort. Im Gegenteil: Sie zeigt schonungslos auf, wie langlebig die Gewalt und wie fragil der Friede ist, wie zerstörerisch der Schmerz gärt.
Seine Worte spricht Abner mit dem Rücken zur Wand. Im Schlachtgetümmel hat er in Notwehr Joabs Bruder getötet. Später erweist er sich als kluger Verhandler, der den blutigen Bürgerkrieg beenden kann, indem er das Vertrauen seines erstarkten Gegners, David, gewinnt. Doch die Antworten auf seine Fragen holen ihn ein. Joab übt Blutrache für seinen Bruder und bringt Abner um. David distanziert sich von der Tat: «Vor dem Herrn sind ich und mein Königtum für immer unschuldig am Blut Abners.» (2. Samuel 3,28)
Die Erzählung zeigt, wie persönliche und politische Interessen sich ineinander verstricken, Verletzungen und Machtansprüche sich vermischen. Und sie ruft eindringlich dazu auf, andere Wege zu beschreiten als jene blutigen Pfade, die sie beschreibt.

Von: Felix Reich

31. August

Jesus spricht: Selig, die Frieden stiften – sie
werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden.

Matthäus 5,9

Die kunstvoll komponierte Bergpredigt entfaltet die Ethik
des Evangeliums. Indem er sie anspricht, wendet sich Jesus
den Ausgestossenen, Unterdrückten und Bedrängten zu, die
unter den Machtverhältnissen leiden. Zugleich verspricht er
ihnen, dass sie Trost finden und ihr Hunger nach Gerechtigkeit
gestillt wird. Und Jesus spricht zugleich jene Menschen
an, die bereits ein Stück des Himmels auf die Erde bringen,
indem sie der Gewalt entsagen und Frieden stiften.
Den Textrhythmus gibt das Schlüsselwort «selig» vor. Es
weist über das Diesseits hinaus und ist zugleich darin präsent.
Seligkeit habe mit Frieden zu tun, sagte der Schriftsteller
Lukas Bärfuss einmal in einem Interview mit der Zeitung
«reformiert.». Ein Friede, der nicht ausschliesslich sozial zu
verstehen sei. «Es ist vor allem ein innerer Friede, Stille, die
Abwesenheit von Lärm gehört zum Seligen.»
Wer Frieden stiften will, muss zuerst in sich selbst ruhen und
den eigenen Frieden gefunden haben. Insofern ist die Seligkeit
der Friedensstifterinnen und Friedensstifter, die Jesus
in die Gottesfamilie aufnimmt, nicht nur ein Versprechen.
Sie ist auch die Voraussetzung dafür, mit Liebe zu versöhnen,
wo der Hass regiert, und mit Zuwendung zu einen, wo
Zwietracht herrscht.

Von: Felix Reich

30. August

Weil wir zu Christus gehören, wurden wir als Erben
eingesetzt – so wie Gott es im Voraus bestimmt hat.
So hat er es beschlossen, der ja alles bewirkt.
Nach seinem Willen sollte es geschehen.
Epheser 1,11

Der Glaube ist ein Geschenk. Er ist Gnade. Und zuweilen
ist der Glaube ein Gehen auf schwankenden Brettern, ein
zähes Ringen um Zuversicht, ein zartes Pflänzchen, das zu
verdorren droht. Der Zuspruch, dass zu Christus gehört, wer
das Evangelium vertrauend aufnimmt, nährt den Glauben.
Genauso wie die Gewissheit, im Glauben nicht allein zu sein.
Wenn die Worte fehlen, geben überlieferte Gebete und vertraute
Lieder Halt. Gegen die Angst, den Glauben zu verlieren,
hilft die Gewissheit, dass andere am Glauben festhalten.
Zum Glauben gehört das Handeln. Apostel Paulus ruft die
Christinnen und Christen dazu auf, als eine Gemeinschaft
von unterschiedlich talentierten Menschen das Böse in der
Welt durch das Gute zu überwinden und verkrustete Strukturen
durch die Liebe von innen aufzubrechen.
Dass all das «nach seinem Willen» geschehen soll, ist
Zuspruch und Aufforderung zugleich. Die Gewissheit, als
Erbinnen und Erben eingesetzt zu sein, schenkt Vertrauen.
Gottes Willen, der nach Frieden und Versöhnung, Würde
und Liebe strebt, in der Welt wirksam werden zu lassen, ist
jedoch die Aufgabe der Menschen.

Von: Felix Reich

29. August

Wer bereitet dem Raben die Speise, wenn seine
Jungen zu Gott rufen und irrefliegen, weil sie nichts
zu essen haben?
Hiob 38,41

Hiob hat alles verloren. Familie, Gesundheit, Hab und Gut.
Die drei Freunde, die selbstgerechte Erklärungen statt Mitleid
für ihn übrighatten, erzürnten ihn derart, dass er zur
grossen Anklage gegen Gott anhob. Er soll sich zeigen und
sich rechtfertigen. Der Wunsch wird erfüllt. «Und der Herr
antwortete Hiob aus dem Sturm.» (Hiob 38,1)
Allerdings liefert Gott keine Antworten. Vielmehr bombardiert
er Hiob mit Fragen, um ihm die kümmerliche
Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis vor Augen zu
führen. Im Licht des Prologs ein irritierender Auftritt: Gott,
der sich als vielbeschäftigter Lenker des Kosmos inszeniert,
liess sich doch eigentlich vom Satan zu einer abgründigen
Wette hinreissen mit der Existenz des frommen Hiob als Einsatz.
Obwohl Gott die Bühne betritt, erhellt er das Warum
der Tragödie nicht.
Am Ende wird Hiob zwar rehabilitiert und geheilt und erhält
Schadenersatz. Die Freunde stellt Gott in den Senkel. Ein
Happy End ist das trotzdem nicht, denn der Grund für das
Leid bleibt verborgen, Erklärungen taugen nichts. Wenn die
Geschichte dennoch eine Moral hat, so vielleicht jene, dass
das Leid keine Moral hat. Und: Gott mag unberechenbar und
unverfügbar sein, aber er steht immer an der Seite der Opfer.

Von: Felix Reich

30. Juni

Ich will ihnen ein anderes Herz geben und
einen neuen Geist in sie geben.
Hesekiel 11,19

In seiner zweiten Streitrede wendet der Prophet seinen Blick
den Verschleppten und Verbannten zu. Von ihnen sagen die
Bewohnerinnen und Bewohner Jerusalems so abschätzig wie
selbstgerecht, sie seien «fern vom Herrn» (Hesekiel 11,15).
Die Solidarität des Propheten gehört jedoch ebendiesen
Verstossenen, die «zerstreut worden sind» (Hesekiel 11,17).
Ihnen gilt das Versprechen Gottes, dass er sie sammeln und
ihnen festen Boden unter die Füsse geben wird.
Mit der Läuterung einher gehen ein anderes Herz und ein
neuer Geist. Das Herz meint den Sitz des Denkens des Individuums,
der Geist steht für die auf Gottes Gesetzen bauenden
Werte des Kollektivs. Die Erneuerung beginnt also beim
einzelnen Menschen und mündet in einer Gemeinschaft, die
sich auf den Gemeinsinn besinnt.
Als ein Echo ist der Zuspruch des Propheten auch im Lehrtext
aus dem Neuen Testament hörbar: «Gott hat uns nicht
gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der
Liebe und der Besonnenheit.» (2. Timotheus 1,7) Nicht in
der Angst vor Veränderung sollen die Menschen verharren,
sondern mit Mut und Gottvertrauen Grenzen überwinden
und zu einem Wandel beitragen, der dem Leben und dem
Frieden dient.

Von: Felix Reich