Evelyn Borer hat die Gastkolumne für den 1. Mai verfasst. Sie ist Synodalratspräsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Kanton Solothurn und seit Januar 2021 Präsidentin der Synode der Evangelischen Kirche Schweiz  EKS.

Soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.            Jesaja 55,9

Ich lese diese Worte und ich höre gleichzeitig Reinhard Mey: Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann …

Ja, was dann? Himmel, Wolken, Freiheit? Ist die Freiheit wirklich so grenzenlos? Kann ich alles hinter mir lassen? Dieser Flug wird einmal zu Ende sein. Das Benzin wird knapp. Der Pilot braucht eine Pause. Die Grenzen unserer Freiheit sind mit den Grenzen des «Menschenmöglichen» erreicht.

Gerne gehe ich wandern – Bodenhaftung ist wichtig – suche manchmal die Herausforderung der Berge, lote meine Grenzen aus. Im Wissen und Vertrauen darauf, dass ich meine Grenzen erkenne, sie beurteilen und wenn möglich erweitern kann. Auf dem Gipfel angekommen, ist meine Seele weit, empfänglich, stolz auf das Erreichte und zugleich demütig. Denn ich erkenne, mehr geht heute nicht. Aber vielleicht morgen.

Denkend ist die Freiheit grösser als die physischen Grenzen des Menschen. Den Himmel werden wir nicht erreichen. Trotzdem sollten wir uns erlauben, weiter zu denken und nach Höherem zu streben. Immer wieder neu. Grenzenlos leben? Das geht nicht. Denn spätestens am Zaun meines Nachbarn, bei der Lebensgestaltung des Anderen, bei den Gedanken meiner Nächsten sind meine Grenzen erreicht. Die Freiheit des Nächsten begrenzt meine eigene Freiheit.

In  der  Präambel  unserer  Bundesverfassung  steht  es so:

… In gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.

Gemeinsam und die Freiheit gebrauchend, können wir vieles erreichen. Und zu einer weiteren, höheren Ebene gelangen. Wir können unsere Flügel ausbreiten und unsere Wurzeln dennoch sicher verankern. Wir können grenzenlos denken, auch wenn die Umsetzung ganz praktische Grenzen hat und damit auch immer Stückwerk bleibt.

«Unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.» (1. Korinther 13,9–10) Wenn wir unser Wissen, unsere Fertigkeiten und Fähigkeiten zusammentun, so gelingt es uns, Herausforderungen zu meistern. Wir finden neue, andere Wege. Sie werden nicht vollkommen sein. Aber gemeinsam und darauf vertrauend, dass viele Stücke ein grösseres und besseres Ganzes ergeben können, das ist ein guter Weg.

Von Evelyn Borer