Autor: Esther Hürlimann

8. September

Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Güte, Rechtschaffenheit, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung. Galater 5,22–23

Als ich begann, diesen Paulustext auf mich wirken zu lassen und mir Gedanken dazu zu machen, kam mir dieser Vers verblüffend vertraut vor. Dieser Reigen an menschenverbindenden Tugenden und Gemütszuständen weckte weiche, angenehme Gefühle in mir – mit Ausnahme vielleicht der «Selbstbeherrschung», die etwas altmodisch daherkommt. Und schon wollte ich etwas darüber schreiben, dass auch uns, die wir nicht so bibelfest sind und viele Jahrhunderte nach dem Verfassen der Testamente leben, das Göttliche und seine «geistigen Früchte» nahe erscheinen. Doch dann merkte ich zufällig, dass mir bereits letztes Jahr für einen anderen Tag genau dieser Text zugelost worden war. Das berührte mich und stellte eine ganz besondere innere Verbindung zu diesem Vers her. Und plötzlich beschäftigten mich die Unterschiede von einst und heute. Dabei wurde mir bewusst, wie die Bibel aus ihrer Zeit gelesen immer eine neue Aktualität gewinnt. Denn bei der Lektüre dieses Mal kommen mir diese Tugenden noch viel schützenswerter vor, weil sich die Welt inzwischen noch mehr ins Gegenteil verwandelt hat. Lasst uns daran arbeiten, dass wir die Paulusworte an die Galater sorgsam in uns immer wieder aufsagen und sie dort wirken lassen, wo wir zusehen müssen, wie sich die Menschheit in eine andere Richtung entwickelt.

Von: Esther Hürlimann

7. September

Jesus legte die Hände auf die verkrümmte Frau;
und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott
. Lukas 13,13

Das Bild schmerzt. Eine Frau, bis zur Entstellung erdrückt und in sich zusammengesunken. Der aufrechte Gang, der den Menschen zum Gegenüber macht, gebrochen. Der Geist krank. Seit achtzehn Jahren schon ist die Frau Gefangene eines Leidens, erzählt uns Lukas in diesem Buch. Und doch ist sie in die Synagoge gekommen, um Jesus zu hören. Als Jesus die Frau sieht, ruft er sie zu sich, legt ihr die Hände auf, und sogleich wird sie von ihren Fesseln befreit. Sie richtet sich auf und preist Gott.
Zu schön, um wahr zu sein? Es handelt sich um ein Gleichnis. Lesen wir diesen Vers als ein Symbol dafür, dass der Schritt, sich ein Leiden einzugestehen und Hilfe anzunehmen, der Anfang sein kann, uns von den Fesseln einer grossen Sorge zu befreien. Gehen wir davon aus, dass die Frau schon lange mit sich gerungen hat und dem Besuch in der Synagoge ein innerer Prozess vorausgegangen ist. Sie hat von Jesus gehört und gedacht, dass er ihr helfen könnte. Nehmen wir diesen Vers als Ermutigung, nicht alles allein zu buckeln, weil es für manche Sorgen oder Bürden im Alltag Unterstützung gibt, um eine Last loszuwerden oder sich von einer Fessel zu befreien. Vielleicht ist es keine aufgelegte Hand, dafür aber ein Gespräch oder andere Formen der Berührung. Geben wir uns heute einen Ruck, um etwas, das schon länger auf uns lastet, loszuwerden. Und seien wir dankbar.

Von: Esther Hürlimann

8. Juli

Gott offenbart, was tief und verborgen ist. Daniel 2,22

Wenn ich mit Menschen darüber rede, welche Rolle die
Religion in unserem Leben eigentlich noch spielt, kommt
das Gespräch über viele Umwege meist dahin, dass wir sie
am ehesten noch dort beanspruchen, wo wir mit unserem
Verstand, unserem Wissen, aber auch über alle Angebote,
die unsere Gesellschaft uns an Rat und Dienstleistung zur
Verfügung stellt, nicht hinkommen. Obwohl in unserer säkularen
Welt die Kirche aus dem Leben der meisten Menschen
verschwunden ist und wir ihre einstigen Kernkompetenzen
wie Seelsorge, Spiritualität und die Rituale zur persönlichen
Einkehr und Lebensabschnittsgestaltung individuell organisieren,
geht es eigentlich immer noch um das genau Gleiche:
Wir suchen nach einer Instanz, die uns das Nicht-Greifbare
und Nicht-Offensichtliche erklärt: Was kommt nach dem
Tod? Wie überstehe ich eine Lebenskrise? Wie gestalte ich
einen schicksalhaften Moment in meinem Leben? Aber
auch: Wie lerne ich, meinen Alltag mit allen Herausforderungen
zu bewältigen? «Gott offenbart, was tief und verborgen
ist.» Wie einfach und doch klar, dieser Vers, der
uns eine Inspiration sein kann zum Innehalten in unserem
tagtäglichen Leben. Statt uns nur an den äusseren Pflichten
und Leitplanken zu orientieren, können wir uns vornehmen,
immer mal wieder eine Pause einzulegen und nach innen zu
horchen und dort nach dem Verborgenen zu suchen.

Von: Esther Hürlimann

7. Juli

Der HERR dachte an uns, als wir unterdrückt waren,
denn seine Güte währet ewiglich.
Psalm 136,23

Psalm 136, aus dem dieser Vers stammt, spielt in der jüdischen
Tradition eine bedeutende Rolle. Er wird am Sederabend,
der den Auftakt zum Pessachfest bildet, gesungen.
Dabei geht es um die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten
und das damit verbundene Lob und die Dankbarkeit für
Gott. Wesentlich für mich ist daran das Wort «ewiglich»,
weil der Gott, der in diesem Psalm gelobt und gepriesen wird,
ein Gott ist, der nicht nur in der Befreiung an unserer Seite
ist, sondern auch in der Unterdrückung. Im selben Psalm
kommt mehrfach der uns vertraute Glaubenssatz «denn
seine Güte währet ewiglich» vor. In manchen Lebensphasen
mag uns das vielleicht zynisch erscheinen, doch ist dieses
Vertrauen auf etwas ewig Gütiges wie die Schöpfung nicht
eine Urkraft, auf die wir täglich bauen? Ich schreibe diesen
Text in einem Moment, da es draussen regnet und stürmt.
Und doch spriesst die Natur, die ein paar wenige Tage zuvor
Sonne getankt und sich bei strahlendem Licht Energie geholt
hat. «Nach em Räge schint d’Sunne» heisst ein berühmtes
Lied, das Marthely Mumenthaler und Vrenely Pfyl 1945 nach
den Worten des Komponisten Artur Beul sangen. Es wurde
zum Erfolgshit vielleicht gerade deshalb, weil es nach dem
Zweiten Weltkrieg jene Hoffnung besang, dass nach schwierigen
Zeiten bessere kommen. Diese Hoffnung, die auf eine
ewigliche Güte baut, möchte ich aufnehmen.

Von: Esther Hürlimann

8. Mai

Jesus sprach: Ihr sollt nicht meinen, dass ich
gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten
aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen,
sondern zu erfüllen.
Matthäus 5,17

Dieser Vers führt uns mitten in eine Szenerie, die so etwas
wie die Essenz des Neuen Testaments ist. Die Bergpredigt,
aus der dieser Satz stammt, zeigt uns Jesus als eine Art
neuen Mose, der statt vom Sinai zum jüdischen Volk nun
von einem Berg zu seinen Jüngern spricht.
Fast etwas penetrant wiederholt sich zweimal hintereinander
die Formulierung «Ich bin nicht gekommen, aufzulösen
». Damit zielt Jesus auf die menschliche Neigung, lieber
alles über den Haufen zu werfen, statt einen Wandel zuzulassen.
Sich ganz zu trennen, scheint manchmal der einfachere
Weg zu sein, als etwas Bewährtes in eine neue Lebenssituation
zu übersetzen. Jesus betont in der Bergpredigt die ewige
Gültigkeit von Gottes Geboten, die unser Zusammenleben
regeln, und fordert, diese den sich wandelnden gesellschaftlichen
Umständen anzupassen. Die Weisungen aus alter Zeit
sind nicht falsch, sagt er. Es geht darum, ihren eigentlichen
Kern auch in veränderten Zeiten zu bewahren. Schauen wir
auf das aktuelle Miteinander auf unserem Planeten, kommt
uns diese Haltung besonders kostbar vor. Nehmen wir diesen
Appell an, indem wir die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander
nicht aufgeben und indem wir in unserem Alltag
an den Geboten des Respekts und des Anstands gegenüber
unseren Nächsten festhalten.

Von: Esther Hürlimann

7. Mai

Der HERR antwortete Hiob: Wo warst du, als ich
die Erde gründete und zum Meer sprach: «Bis
hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier
sollen sich legen deine stolzen Wellen!»?
Hiob 38,4.11

Seit ich an den Bolderntexten mitschreiben darf, habe ich
mir gewünscht, dass mir eines Tages ein Vers aus dem Buch
Hiob zugelost wird. Nicht nur weil es als literarisches Meisterstück
gilt, sondern weil uns heutigen Menschen Hiob in
seinem Hadern mit dem Glauben so nahesteht wie kaum
eine biblische Figur. Sein Ringen mit Gott und sein Sichdarüber-
Beschweren, was ihm alles an Leid zugemutet wird –
wie sehr können wir das nachvollziehen. Doch werden wir
in diesem Buch auch mit einem Gott konfrontiert, der Hiob
ständig zurück in seine Schranken weist und ihm klarmacht,
dass ein gottesfürchtiges Leben nicht automatisch Glück auf
Erden garantiert.
Im heutigen Vers holt Gott gegenüber Hiob zu seiner grossen
Rede aus, worin er seine Souveränität über die Schöpfung
deutlich macht und Hiob dessen Begrenztheit aufzeigt.
Gott erinnert daran, dass wir Menschen nicht alles verstehen
können und er über allem steht. Auch wenn es uns schwerfällt,
diese aus einer patriarchalen Welt stammende dominante
Geste anzunehmen, steckt in ihr eine Haltung der
Demut, die uns in unserer heutigen Zeit guttut. Wir können
nicht alles verstehen. Wir müssen unser Bedürfnis, in allem
einen Sinn zu sehen, manchmal loslassen, ohne aber Hiobs
rebellisches Wesen ausser Acht zu lassen.

Von: Esther Hürlimann

8. März

Simon Petrus sprach zu Jesus: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Johannes 6,68

«Wohin sollen wir gehen?» Welch eine simple Frage eigentlich, die aber oft gar nicht so einfach zu beantworten ist. Kennen wir nicht die endlosen Diskussionen, die bei der Ferienplanung aufkommen? Oder wo wir unseren Wochenendeinkauf oder Sonntagsspaziergang machen sollen? Das Angebot an möglichen Destinationen für alltägliche Erledigungen ist so riesig geworden, dass unser Tag manchmal einem Parcours voller Entscheidungen gleicht. Dazu kommen die noch viel gravierenderen Wohin-Fragen, wie jene nach dem passenden neuen Wohnort, wenn das Haus nach dem Auszug der Kinder zu gross geworden ist. Oder wenn uns ein Schicksalsschlag zu einer neuen Orientierung im Leben zwingt. Wie gerne hätten wir dann wie Petrus einen Freund, auf dessen Ratschlag Verlass ist. Das ist wohl auch das, was wir meistens tun: Wir fragen bei folgenschweren Entscheidungen einen Vertrauten, der sich auskennt. Der uns mit seinen Fragen dorthin führt, wohin es uns tatsächlich zieht. Der uns vielleicht auch aufzeigt, dass wir in unseren Entscheidungen nicht nur das Naheliegende betrachten, sondern über uns hinausdenken sollten. Dorthin, wo sich für uns Unbekanntes verbirgt. Dorthin, wo es Mut und Vertrauen braucht. Dorthin, wo wir unsere eigenen Grenzen ausweiten. Auf dass wir heute in unseren Entscheidungen etwas Neues wagen!

Von: Esther Hürlimann

7. März

Wo viel Worte sind, da geht’s ohne Sünde nicht ab; wer aber seine Lippen im Zaum hält, ist klug. Sprüche 10,19

Wir kennen diese biblischen Worte in der etwas kompakteren Version «Reden ist Silber, Schweigen ist Gold», deren Urheberschaft nicht gesichert ist. Ein möglicher Autor ist der heilige Benedikt, der mit seinen Regeln das Zusammenleben der Mönche und Nonnen regelte und Hilfestellungen für das geistliche Leben formulierte. Zwar ist «Lippen im Zaum halten» nicht ganz dasselbe wie «Schweigen». Unabhängig davon stellt sich die Frage: Was soll besser daran sein, wenn wir weniger reden, statt unseren Worten einfach freien Lauf zu lassen? Benedikt dachte an die Stille, die der Gottsuche oder auch dem inneren Frieden im Schweigen mehr freien Raum lässt. Vermutlich aber dachte er auch an das Vermeiden von Konflikten, die mit Worten ausgetragen werden. Wir heutigen Menschen aber sind zum Glück mit der Devise aufgewachsen, dass es oft besser ist, die Dinge aus- oder anzusprechen, als sie in uns hineinzufressen. Trotzdem sehnen wir uns nach Momenten des Schweigens. Unsere vernetzte Welt sorgt dafür, dass wir ungefragt und ständig mit den Meinungen anderer konfrontiert werden. Daher sind wir mehr denn je gefordert, uns die Zeiten des Schweigens wie auch des Redens bewusst einzuteilen. Denn wir brauchen beides: Momente, in denen wir still sind und nach innen horchen, und Momente, in denen wir uns ausdrücken und im Reden mit anderen Menschen verbinden. Schätzen wir uns dann klug, wenn uns heute diese Balance gelingt.

Von: Esther Hürlimann

8. Januar

Gott, mein Herz ist bereit, ich will singen und spielen. Wach auf, meine Seele! Psalm 108,2

Welch ein schöner Vers zum Tagesbeginn! Fast zu schön, um dem mit Worten noch etwas beizufügen, das nicht schon gesagt ist und in uns eine positive Wirkung entfaltet … Oder vielleicht fehlt doch was? Spüren wir in diesen ersten wachen Augenblicken des Tages nicht bereits all die Hindernisse, die uns das Singen und Spielen verwehren? Fehlt uns nicht ein letzter Ruck, der unsere Seele so richtig aufwachen lässt? Breiten sich nicht bereits Sorgenfalten über unser eigenes Leben und den Weltfrieden aus, bevor wir die Augen richtig geöffnet haben? Wir leben in schwierigen Zeiten. Und tatsächlich wurde dieser Psalm Davids in Kriegszeiten geschrieben. Wir spüren darin den hoffnungsvollen Impuls des Autors, dass das eigene Leben und das Zusammenleben aller Menschen selbst in Krisen einem göttlichen Plan gehorcht, der nur das Beste will und sich bestimmt erfüllen wird. Er suggeriert, dass wir bereit sind dazu. Und diesen Ansatz finde ich in diesem Psalmvers motivierend – in einer Zeit, da wir das Menschenmögliche eher in unseren eigenen Händen sehen denn in einer einzigen göttlichen. Lassen wir unser heutiges Aufwachen also als eine hoffnungsvolle Ermutigung annehmen, aus diesem Tag etwas Besonderes zu machen. Schöpfen wir aus uns selbst. Spielen und singen wir. Lassen wir die Sorgen in und um uns für einmal etwas hintanstehen und uns wirksam fühlen – für uns und andere.

Von: Esther Hürlimann

7. Januar

Verachte nicht die Unterweisung durch den
HERRN und sei nicht unwillig, wenn er dich ermahnt.
Sprüche 3,11

Aufs Erste berührt mich dieser Vers unangenehm, weil er in seiner Wortwahl an Zeiten erinnert, da unser Handeln bestimmt war von äusserem Druck und einer überlegenen, besserwissenden Instanz. In der Schule, bei der Arbeit, oft aber auch noch in Familien lagen die «mahnenden» Imperative in den Händen hierarchisch überlegener Autoritäten, denen wir – nicht verwunderlich – unwillig, ja verachtend begegneten. Heute ist es – zumindest in unserer Welt – zum Glück selbstverständlich, dass wir dominanter Rede und Besserwissertum kritisch begegnen und der eigenen Sichtweise mehr Gewicht geben, um unser Leben zu gestalten und die Welt zu verstehen.
Doch als würde dieser strenge Ton aus früheren Zeiten nachhallen, kennen wir diese innere Stimme, die uns manchmal lieblos mit dem Zeigefinger ermahnt und von oben herab unter Druck setzt. Auch wenn es nur kleine Dinge sind, neigen wir dazu, Termine und Verpflichtungen unwillig vor uns herzuschieben – im Bewusstsein, dass wir dadurch nicht freier werden. Aus dieser Perspektive lese ich plötzlich auch den heutigen Vers anders: Verstehen wir die «Unterweisung durch den Herrn» als einen inspirierten, weisen inneren Dialog, in dem wir uns liebevoll unseren Widerständen zuwenden und uns an den Früchten unseres Tuns freuen, folgt wie von selbst die Fortsetzung im anschliessenden Vers (Sprüche 3,12): «Denn darin zeigt sich die Liebe.»

Von: Esther Hürlimann