Autor: Dorothee Degen

29. Oktober

Jesus spricht: Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe. Johannes 15,10

Verbinden Sie «Gebote» mit Liebe, mit Freude? Ich eher nicht. «Gebote», das riecht nach «gehorchen», nach
«Forderungen erfüllen», nach «fremdbestimmt», allenfalls auch nach «durchfallen» und «Strafe». Das kann es doch nicht sein!
Um besser zu verstehen, lese ich die Abschiedsreden Jesu (Johannes 12 bis 17) in einem Zug, mehrere Seiten lang. Ich lasse mich hineinnehmen in ein unablässiges Kreisen um Begriffe wie Liebe und Freude, Glauben, Verstehen und Nicht-Verstehen, Wissen und Noch-nicht-Wissen und trotzdem Dranbleiben, geschöpft aus der tiefen Verbundenheit Jesu mit dem Vater.
So auch die Verse vor und nach dem obigen Lehrtext: «Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Das habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde.» (Johannes 15, 9–11)
Jesus, der geliebte Sohn des himmlischen Vaters, liebt bis zum Äussersten: «Niemand hat grössere Liebe, als wer sein Leben einsetzt für seine Freunde. … Dies gebiete ich euch: dass ihr einander liebt!» (Verse 13.17) – Seine Gebote halten heisst demnach: Sich lieben lassen. Und üben, üben, üben.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

28. Oktober

Jesus sprach: Was aus dem Menschen herauskommt, das macht den Menschen unrein. Markus 7,20

Rein werden, rein bleiben: Die Sehnsucht steckt wohl tief in uns, wenn wir sie vielleicht auch anders benennen. Und täglich scheitern wir am Anspruch der Makel- oder Fehlerlosigkeit.
Die Religionen definieren, was Reinheit ausmacht, und kennen Rituale, um Reinheit zu erhalten oder wiederherzustellen. Die Antwort der jüdischen Religion: sich an die Gesetze halten, sich fernhalten von allem, was einen verunreinigen könnte, von unreinen Speisen zum Beispiel. Die Frommen scheuen keine Mühe, die Regeln einzuhalten, und wähnen sich auf der sicheren Seite.
Aber der Schaden sitzt tiefer. Jesus sagt, das Übel kommt nicht von aussen, sondern von innen: «Denn aus dem Innern, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, List, Ausschweifung, Missgunst, Lästerung, Hochmut, Unverstand. All dies Böse kommt aus dem Innern heraus und macht den Menschen unrein.» (Verse 20–23)
«Das Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend auf», heisst es schon in 1. Mose 8,21. Jesus hat das am eigenen Leib erfahren und hat die Menschen trotzdem nicht aufgegeben. Er hat sich den menschlichen Abgründen entgegengestellt mit nichts als der Liebe Gottes. Das hat ihn letztlich das Leben gekostet. Und doch hat er im vermeintlichen Scheitern am Kreuz den Himmel geöffnet.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

29. August

HERR Zebaoth, du bist allein Gott über alle Königreiche auf Erden, du hast Himmel und Erde gemacht. Jesaja 37,16

Zum zweiten Mal liegen die assyrischen Truppen vor Jerusalem. Beim ersten Mal sind sie überraschend abgezogen, aber nun gilt es ernst. Ihr Kommandant überbringt einen Drohbrief seines Königs Sanherib an Hiskia, den König des winzigen Landes Juda, überschüttet ihn mit Hohn und Spott und macht seinen Gott lächerlich. Ein Machtkampf zwischen Göttern?
König Hiskia hat Angst. Er geht mit dem Brief in den Tempel und breitet ihn vor Gott aus: Da, lies! Er wendet sich an den Herrn über alle Königreiche, den Schöpfer des Himmels und der Erde – die Losung des heutigen Tages. Und er schüttet ihm sein Herz aus. Was hat er der assyrischen Übermacht entgegenzusetzen? Er fleht: «Und nun, HERR, unser Gott, rette uns aus seiner Hand, damit alle Königreiche der Erde wissen, dass du allein der HERR bist!»
Damals blieb Jerusalem verschont, und Sanherib kam wenig später gewaltsam ums Leben.
Kriege und Gewalt hat es immer gegeben, Machtkämpfe sind auf allen Ebenen weitergegangen, Volk gegen Volk, Grosse gegen Kleine, bis heute. Mit allen Mitteln, grausam, erbarmungslos – und oft anmassend «with God on our side».
«Du bist allein Gott über alle Königreiche auf Erden, du hast Himmel und Erde gemacht.» Nicht als Partei im Machtkampf um die Oberhand. Dein Reich komme!

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

28. August

Du wirst sein eine schöne Krone in der Hand des HERRN und ein königlicher Reif in der Hand deines Gottes. Jesaja 62,3

Kostbar sind die Schmuckstücke, kunstvoll gearbeitet, Zeichen königlicher Ehre und Würde «in der Hand des Herrn»: ein Loblied auf Zion, die Gottesstadt Jerusalem, und auf ihren Schöpfer und Liebhaber.
«Du wirst sein» – diese Verse wurden geschrieben als ein Versprechen für die Zukunft. Denn die Gegenwart sah anders aus für die Rückkehrer aus dem babylonischen Exil. Der Wiederaufbau der zerstörten Stadt war mühsam, der Alltag geprägt von Mangel und Sorgen, das Leben bedroht von eifersüchtigen Nachbarn, die selbst nicht genug hatten.
Aber Gott, der Schöpfer, sieht mehr als die mühselige Gegenwart. Er ist verliebt in diese Stadt und ihre Menschen und sieht in ihr jetzt schon, was sie einst sein wird: «Der Herr hat Gefallen an dir. Wie der Bräutigam sich an der Braut freut, so freut sich dein Gott an dir», heisst es in der Fortsetzung des Losungstextes.
Gott liebt seine Geschöpfe, sieht durch ihr Versagen hindurch die, die er geschaffen hat und die sie einst sein werden. Mir fällt dazu die Geschichte ein, die Jesus erzählt hat: vom jungen Mann, der mit dem Vater bricht, in die Welt hinauszieht und nach Jahren abgerissen und elend heimwärts stolpert. Und was macht der Vater? Schliesst ihn in die Arme, steckt ihm einen kostbaren Ring an den Finger und lässt ein Festessen auffahren.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

29. Juni

Gamaliel sprach: Lasst ab von diesen Leuten und
lasst sie gehen! Denn wenn das, was hier geplant und
ins Werk gesetzt wird, von Menschen stammen sollte,
dann wird es zerschlagen. Wenn es aber von Gott
kommt, dann werdet ihr sie nicht aufhalten können.

Apostelgeschichte 5,38–39

Im Hohen Rat in Jerusalem ist die Stimmung aufgeheizt.
Mehrmals sind die Wortführer dieser neuen Sekte ins Gefängnis
gesteckt worden, und kaum sind sie frei – man weiss
nicht, wie –, predigen sie wieder im Tempel, trotz Redeverbot.
«Als sie [im Hohen Rat] dies hörten, wurden sie rasend vor
Zorn und wollten sie töten.» (Apostelgeschichte 5,17–42)
Erstaunlich, mit welcher Gelassenheit Gamaliel argumentiert.
Erstaunlich, dass der Rat ihm folgt.
Zürich 1525: Die Reformation ist seit drei Jahren beschlossene
Sache, und hier nimmt auch die Täuferbewegung ihren
Anfang. Den Revoluzzern geht Zwingli zu wenig weit. Sie
halten sich kompromisslos an die Bibel, taufen Erwachsene,
widersetzen sich der Autorität des Staates. Wie ist mit ihnen
umzugehen? Jetzt hätte der Zürcher Rat einen Gamaliel
nötig gehabt. In den folgenden hundert Jahren werden die
Täufer vertrieben, eingesperrt, getötet. Viele wandern aus
nach Holland oder Amerika, wo sie geduldet werden.
Am Auffahrtstag, 29. Mai 2025, haben sie in Zürich (!) fünfhundert
Jahre weltweite Täuferbewegung gefeiert. Es gibt sie
immer noch, Gamaliel hat recht behalten.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

28. Juni

Er wird mit Gerechtigkeit richten die Armen
und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande.

Jesaja 11,4

Auf dem Sockel des Gerechtigkeitsbrunnens in der Berner
Altstadt steht Justitia mit verbundenen Augen, in der Rechten
das erhobene Schwert, in der Linken die zweischalige
Waage. Dieser Brunnen hat mich als Kind sehr beeindruckt.
Die verbundenen Augen irritierten mich. Wie kann Justitia
richten, wenn sie nichts sieht? – Zu ihren Füssen sind weitere
Personen dargestellt: Papst, Kaiser, Sultan, Schultheiss, eine
erlauchte Gesellschaft. Erst später habe ich verstanden, was
«Richten ohne Ansehen der Person» heisst. Justitia soll sich
von der Macht der Mächtigen nicht blenden lassen, ob sie
Papst, Kaiser, Sultan oder auch Schultheiss heissen.
Recht ist erst Recht, wenn auch die Armen und Schwachen
zu ihrem Recht kommen. Der kommende Friedensherrscher
im Lied von Jesaja 11 «urteilt nicht nach dem Augenschein
und entscheidet nicht nach dem Hörensagen. Er ist gerecht
und sorgt dafür, dass die Schwachen zu ihrem Recht kommen.
Er ist aufrichtig und trifft Entscheidungen zugunsten
der Armen im Land.» (Verse 3 und 4, Basisbibel)
Ich stelle mir vor, wie die Alleinerziehenden und ihre Kinder,
die Obdachlosen, die Schwierigen und die Vergessenen,
die Kriegsvertriebenen und Versehrten um den Gerechtigkeitsbrunnen
tanzen und singen vor Freude.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

29. April

Wenn ihr alles getan habt, was Gott euch befohlen hat, dann sagt: Wir sind Diener, weiter nichts; wir haben nur getan, was uns aufgetragen war. Lukas 17,10

Auf den ersten Blick wirkt dieser Vers schroff. «Diener – weiter nichts!» Ist es nicht so, dass wir irgendwo im Verborgenen eine geheime Rechnung führen: dass mir meine Guttaten (wenn es denn welche sind) angerechnet werden. Dass ich ebenso in Sorge bin, es könnte nicht reichen. Muss man sich am Ende das Himmelreich doch irgendwie verdienen?
Auf den zweiten Blick ist es eben gerade keine Rechnung. Tun, was Gott euch befohlen hat, Gottesdienst also, ist Leben: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst.» (Lukas 10,27)
In einem Radio-Interview über Hoffnung und ein sinnvolles Leben sagte der Historiker und Publizist Philipp Blom: «Wir brauchen einen Horizont, der grösser ist als das eigene Leben. Die Welt ist veränderbar, und ich habe einen Beitrag. Ich bringe meinen Beitrag, weil ich weiss, dass es richtig ist, nicht weil es Erfolg verspricht.» Das «Richtige», das, was uns aufgetragen ist, kann Mut oder Verzicht oder Ansehen oder Geld oder Schweiss kosten und ist vor Zweifeln nicht gefeit. Aber ob es gelingt oder nicht, es hat den Lohn in sich selbst.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

28. April

Eile, mir beizustehen, HERR, meine Hilfe. Psalm 38,23

Warten ist schwer. In der Not muss Hilfe kommen, und zwar schnell! Wenn nötig mit Blaulicht und Martinshorn. Bei Unfällen oder akuter Krankheit dehnen sich die Warteminuten zu Ewigkeiten.
Aber auch in einer Not, die das Leben nicht unmittelbar bedroht, ist es schwer, nichts tun zu können, den Schmerz, die ungelöste Situation, den Verlust aushalten zu müssen. Was «nicht zum Aushalten» ist, muss manchmal noch lange ertragen werden.
Psalm 38 liest sich wie ein Hilfeschrei. Der Psalmdichter deutet seine Krankheit als wohlverdiente Strafe Gottes, als Züchtigung: «Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn! … Meine Vergehen kommen über mein Haupt, sie erdrücken mich wie eine schwere Last.»
Magisches Denken? Es ist uns auch heute nicht allzu fern, trotz Aufklärung und nüchterner Ratio. «Womit habe ich das verdient?» und «Warum gerade ich?», fragen wir, wenn uns ein schweres Schicksal trifft. Meistens gibt es darauf keine Antwort.
Manchmal kommt die Hilfe auf leisen Füssen, fast unbeachtet, wie das erste Dämmerlicht des Tages. Erst rückblickend merken wir: Ich habe überlebt, überwunden, bin weitergekommen. Wie ist das geschehen? Vielleicht, wie Jakob bezeugt: «Fürwahr, der Herr war an dieser Stätte und ich wusste es nicht.» (Genesis 28,16)

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

28. Februar

Paulus schreibt: Wir leiden Verfolgung, aber wir
werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, auf dass auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde.
2. Korinther 4,9–10

«Apostel» ist ein lebensgefährlicher Beruf. Paulus hat das in mehreren Briefen beschrieben. Gefahren drohen von Naturereignissen, von Kriminellen, willkürlichen Obrigkeiten, böswilligen Menschen, von Neidern, vom aufgebrachten Mob, von Krankheit und Mangel … Es gibt weder Rechtsschutz noch Reiseversicherung, weder Unfallversicherung noch Krankenkasse, weder einen Ombudsmann noch Beschwerdestellen. Und schon gar keine Altersvorsorge.
Aber es gibt das Wörtchen «aber», das Paulus den Gefahren und Ängsten entgegensetzt: «Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.» (Vers 8) Im zerbrechlichen irdischen Leben leuchtet ihm die Fülle Gottes auf, die in Sattheit und Sicherheit wohl nicht zu erfahren ist: «Wir haben diesen Schatz aber in irdenen (zerbrechlichen) Gefässen, damit die Überfülle der Kraft Gott gehört und nicht von uns stammt.» (Vers 7)
Klingt das nicht wie eine Seligpreisung? Pfarrer Gerhard Neumann hast sie so formuliert: «Herzlichen Glückwunsch euch, die ihr Brüche in eurer Lebensgeschichte habt. Denn durch die Risse in eurem zerbrechlichen Lebensgefäss leuchtet das Licht der Gnade Gottes.»

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

31. Januar

Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden,
was wir gesehen und gehört haben.
Apostelgeschichte 4,20

Dem obigen Vers gehen voraus: die Begegnung der Jünger Petrus und Johannes mit einem gelähmten Mann am Tempeltor, dessen dramatische Heilung, ein Volksauflauf im Tempel, eine fulminante Predigt von Petrus mit grossem Publikumserfolg, seine und des Johannes Verhaftung, eine Nacht in Gewahrsam, eine Vorladung vor den Hohen Rat, eine zweite Predigt, die ebendiesen Rat ratlos lässt. Was soll man bloss mit diesen beiden Männern anfangen?
Das Verdikt wirkt ziemlich hilflos: «Man rief sie herein und befahl ihnen, nie mehr im Namen Jesu zu reden und zu lehren.» Petrus und Johannes entgegnen darauf: «Urteilt selbst, ob es vor Gott recht ist, dass wir euch mehr gehorchen als Gott. Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.» (Apostelgeschichte 4,18–20)
Ich bewundere Petrus, wie er so unerschrocken und begeistert vor dem erlauchten Hohen Rat von den grossen Taten Gottes erzählen konnte! Von seiner Zivilcourage würde ich mir gerne eine Scheibe abschneiden.
Man erkennt Petrus kaum wieder. Nur ein paar Wochen davor, nachts im Hof des Hohen Priesters, hatte er abgestritten, diesen Jesus zu kennen. Das war wohl der Tiefpunkt seines Lebens. Was ist mit ihm passiert? Es muss mit Pfingsten zu tun haben. Petrus war buchstäblich vom Geist erfasst –
begeistert.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann