Autor: Dörte Gebhard

2. Dezember

Bekehre du mich, so will ich mich bekehren;
denn du, HERR, bist mein Gott! Jeremia 31,18

Wenn es ein Spital für verletzte und misshandelte Wörter
gäbe – die «Bekehrung» würde dort eingeliefert. Wahrscheinlich
läge sie im Zweierzimmer, zusammen mit der
«Mission». Wie oft wurde «Bekehrung» nach dem Gutdünken
von selbsternannten Gurus für zwielichtige Zwecke
missbraucht, wie oft wurde sie, umstellt von dunklen
Drohungen, nackt in die Welt hinausgeschickt. Die «Bekehrung
» leidet an «Missverständnitis», ausserdem ist sie krank
wegen des Grössenwahns und der Besserwisserei derer, die
sie sehr oft in den Mund nehmen oder in die Tasten hauen.
Jeremia, der Prophet und Kenner menschlicher Herzen,
beginnt mit wenigen Worten die notwendige Reha für das
grosse, aber oft geplagte Wort «Bekehrung». Es ist die Bitte
eines Menschen an Gott, aus menschlich auswegloser Situation
befreit zu werden. Es ist das Vertrauen darauf, dass Gott
einen Neuanfang ermöglichen kann, wo er nach menschlichen
Massstäben unmöglich scheint.
Die «Bekehrung» kann wieder Menschenherzen bewegen,
wenn der Leistungsdruck und das Appellieren an die
menschliche Entscheidung operativ und rückstandslos entfernt
sind. Sie kann wieder zu Kräften kommen, wenn heilsam
zwischen Gottes Zuwendung und narzisstischem Influencertum
unterschieden wird. Sie wird dann wieder um die
Welt reisen, mit ihrer Gefährtin seit alter Zeit, der Hoffnung.

Von: Dörte Gebhard

1. Dezember

Simeon sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener
in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine
Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil,
das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht
zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines
Volkes Israel. Lukas 2, 29–32

Simeon hatte zuvor auf diesen Trost Israels gewartet, so
sehr und so lange, dass es ausdrücklich überliefert wird. Er
muss ein echter Meister des Wartens gewesen sein, hat es
wohl früh gelernt und lange geübt. Aber ist das ein Leben,
wenn man nur wartet? Timo Reuter, Journalist und Autor,
ist ein später Nachfahre von Simeon und antwortet darauf
mit einem entschiedenen Ja. Nach eigenem Bekunden
wartet er gern, zum Beispiel auf Reisen, und findet, Warten
sei sogar eine Kunst, die wir heutzutage nur verlernt
haben. Er schreibt: «Dem Warten wohnt ein wenig beachtetes,
aber grosses Potenzial inne. Es ist eine vielfältige und
stille Kraft, die Übergänge schafft. Es verbindet uns mit dem
Leben – und als Schmiermittel sozialer Beziehungen auch
mit anderen Menschen.» Er beschreibt das Glück, das sich
in ungeplanten Zeitnischen einnistet, und die unfassbaren
Möglichkeiten, die aus Zwischenzeiten folgen. Simeon spürt
nun, dass seine Lebenszeit zugleich mit dem Warten zu Ende
geht. Aber alles hat sich für ihn erfüllt: Sein Warten war nicht
vergeblich. Seine Erwartungen wurden sogar übertroffen.
Vor allem aber hat er hoffnungsvoll gelebt. Was will man
also mehr? Wartezeiten!

Von: Dörte Gebhard

18. November

Wo keine Hoffnung war, hat Abraham auf Hoffnung
hin geglaubt, auf dass er der Vater vieler Völker werde.
Römer 4,18

Wenn es um bleibenden Ruhm und weltweite Bekanntheit
geht, ist Erzvater Abraham seit Jahrtausenden eine gute
Adresse. Die Propheten im Alten Testament, Lukas und Paulus
im Neuen erinnern sich an ihn genau wie Mohammed
und wir: immer noch und immer wieder. Dabei leben wir
schätzungsweise im 41. Jahrhundert nach Abraham. Er ist
unvergessen.
Auch wenn nicht jeder so nachhaltig berühmt werden
kann, ist doch Abrahams Hoffnung auf Gott nachahmenswert.
Niemand muss dafür künftig als Beduinenfürst leben,
viel Vieh anschaffen oder gar auswandern.
Abraham wird berühmt bleiben wegen seines Gottvertrauens
gegen den Augenschein. Denn er lebte in beständiger
Gefahr, nicht nur durch einen autokratischen Willkürherrscher.
Ein grosses Lebensrisiko war nur schon seine lange
Kinderlosigkeit und dann seine winzige Familie. Weder eine
vertraute Heimat noch gesicherte materielle Verhältnisse
boten Grund für irgendwelche bescheidenen Hoffnungen.
Als Gott Aufbruchstimmung verbreitete, zog er in die eine
Fremde und als Wirtschaftsflüchtling wegen einer Hungersnot
weiter nach Ägypten in die nächste Fremde.
Abraham hoffte weit über sein eigenes Leben hinaus. Er vertraute
Gott über alle Massen. Heute haben wir, anders als er,
allen Grund zur Hoffnung, denn wir sehen im Rückblick Gottes
Treue und wie berechtigt Abrahams Hoffnungen waren.

Von: Dörte Gebhard

2. Oktober

Kommt her und sehet an die Werke Gottes, der so
wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern.

Psalm 66,5

Fragt man eine KI, etwa ChatGPT, was Wunder eigentlich
sind, erfährt man vor allem, wie schwer es Wunder haben.
Wunder seien erstens sehr selten. Die Wunder selbst finden:
Wir sind viele, mehr als genug, aber wir werden leicht
übersehen, wir gehen unter vor Aufregung, in der alltäglichen
Hektik, vor lauter billigen Angeboten.
Wunder müssten zweitens unerklärlich sein. Aber die Leute,
die ein Wunder erleben, stecken dann sofort ihre ganze Energie
in mögliche Erklärungen, auch in die widersprüchlichsten,
unsinnigen, gänzlich absurden. Die Wunder wundern sich gar
nicht, dass dann keine Zeit mehr bleibt zum Staunen, zum
Freuen, für Ergriffenheit und Begeisterung.
Wunder hätten drittens immer etwas Übernatürliches. Die
Wunder selbst aber zählen die Naturgesetze zu ihresgleichen.
Wie sonst ist die wunderbare Ordnung zu denken,
die verlässlich und beständig Leben ermöglicht und erhält?
Wunder kämen viertens immer unerwartet. Wunder
jedoch stören sich nicht daran, wenn jemand nach ihnen
Ausschau hält, im Gegenteil! Vorfreude und Überraschung
vertragen sich bestens.
Fragt man nicht länger ChatGPT, sondern bei den Betenden
nach, erfährt man, was sich die Wunder wünschen: dass
einer sagt und singt: Kommt her und seht …, schaut hin und
wundert euch über Gottes Werke wie ein Menschenkind.

Von: Dörte Gebhard

1. Oktober

Jesus spricht: Ich kenne deine Werke und
deine Mühsal und deine Geduld.
Offenbarung 2,2

Grossartiges kommt vor, aber es ist ziemlich selten und dauert
auch nie lange. Die Verklärung Jesu hatte gerade erst
angefangen, da waren die auserwählten Jünger schon wieder
auf dem Abstieg.
Berühmte Leute gibt es, aber sie sind eine extreme Minderheit.
Ruhm ist ausserdem etwas Vorübergehendes.
Instagram und Tiktok sind überfüllt mit Spektakulärem,
aber der durchschnittliche Alltag verschwindet nicht durch
Scrollen. Das Öde und Anstrengende, alles, was Geduld und
Durchhaltevermögen erfordert, bleibt.
Johannes, der Seher, erspäht einen Christus, der sich nicht
blenden lässt von gefilterten Fotos auf Snapchat, von fantastischen
Filmchen auf Facebook, sondern das Übliche,
das Gewöhnliche im realen Leben wahrnimmt. Er schaut
auch hin bei allem, was nicht ins Tagebuch geschrieben, was
nirgends gepostet, was nicht einmal an der Kirchgemeindeversammlung
lobend erwähnt wird.
Gemeinden haben unterdessen Medienbeauftragte und
Zuständige für Social Media. Grossartiges muss angekündigt
werden, auch wenn es nicht lange vorhält. Events mit
berühmten Leuten sind sehr beliebt, aber sie gehen schnell
vorüber. Im Alltag der Kirche gibt es richtig viel Mühsames,
sogar echt «Langweiliges», zum Beispiel in der Seelsorge.
Wie gut, dass es geschieht. Noch besser, dass Gott es sieht!

Von: Dörte Gebhard

18. September

Jesus sprach: Diese Witwe hat von ihrer Armut
ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.
Markus 12,44

Datenschutz? Keine Spur! Setzt sich Jesus doch beim Kollektenkasten so hin, dass er genau sehen kann, wer wie viel gibt. Gegenwärtig wäre so etwas ausgeschlossen. Auch das Twinten per QR-Code ist selbstverständlich anonym. Schleicht jemand auffällig bei den Kirchentüren herum, hat unser Sigrist ein aufmerksames Auge auf diese Person.
Diskretion? Totale Fehlanzeige. Ruft doch Jesus sogleich seine Jünger und erzählt ihnen brühwarm, wer wie viel gegeben hat. Heutzutage bräche man damit das Seelsorgegeheimnis und müsste sich auf Konsequenzen gefasst machen. Geht es irgendjemanden etwas an, wie viel ich in die Kollekte lege?
Dass Menschen sehen, was vor Augen ist, Gott aber das Herz ansieht, hatte ich mir viel geheimnisvoller, ja geradezu mystisch vorgestellt. Aber Jesus schaut hier über die Geldbeutel der Leute direkt in die Herzen.
Weil es um die Witwe geht, bleiben die Reichen meist unerwähnt. Ihnen sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich gedankt. Denn sie geben viel von ihrem Überfluss, steht bei Markus geschrieben. Ohne solch reiche Leute, die gern ziemlich viel geben, ginge es gar nicht in der Kirche.
Bis heute macht uns unser Portemonnaie durchsichtig bis in die Herzgegend. Dabei reicht es vollkommen aus, wenn uns selbst auffällt, ob wir viel oder – wie die Witwe – alles geben.

Von: Dörte Gebhard

2. August

Euch allen sage ich: Haltet in derselben Gesinnung zusammen
und habt Mitgefühl füreinander! Liebt euch gegenseitig als Brüder und Schwestern! Seid gütig und zuvorkommend zueinander! 1.Petrus 3,8

Psychologen, Hirn- und Trendforscher sagen uns: Der Zusammenhalt
schrumpft, die Beziehungsnetze werden löchriger, Einsamkeit
breitet sich aus, weil sie «ansteckend» (Manfred Spitzer) ist.
Eine Ärztin nennt sie «unerkannten Killer». Roger Staub, ehemaliger
Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana, mahnt in einem Interview:
«Wer unter Einsamkeit leidet, hat eine um zehn bis zwanzig Jahre tiefere
Lebenserwartung. Einsam zu sein, ist so schlecht für die Gesundheit wie
Alkohol, Rauchen und Übergewicht kombiniert.»
Kirchgemeinden kommen als gesundheitsförderlich in den
Blick, obwohl es dort wie überall stark menschelt: wenn
beim Kirchenkaffee nicht jede mit allen kann, wenn alle alles
besser wissen, aber niemand die Verantwortung und in die
Kirchenpflege will.
Auch unvollkommenes soziales Miteinander ist förderlicher
als selbstgewählte Isolation. Die von vielen angestrebte
Selbstbestimmung im Leben und im Sterben ist total überbewertet.
Lasst heute einander den Vortritt, sogar an der Kasse. Verschenkt
eine ganze Packung Taschentücher. Hört einander zu, auch wenn
ihr die Geschichte schon kennt. Fangt klein an und macht morgen
so weiter.

Von: Dörte Gebhard

1. August

Bist du es nicht, HERR, unser Gott, auf den wir hoffen?
Jeremia 14,22

Ohne Feuerwerk kein Nationalfeiertag. Daran ändert auch
grosse Waldbrandgefahr nichts. Denn in den Reden werden
Feuerwerke gezündet. Da glitzern für einen Moment Freiheit
und Föderalismus, Vielsprachigkeit und Demokratie mit
ihren weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten vor dem
dunklen Hintergrund der Weltgeschichte. Aber das Gesagte,
trotz aller Effekte, verglüht meistens schnell. Auch die
bedeutendsten Worte haben zu kämpfen mit Feinstaubbelastungen,
die die Geschichte auf sie gelegt hat. Ausserdem
erreicht gleichzeitig Cervelatduft die Nase. Die Schweizer
Werte und vieles mehr, was so genannt wird, machen sich
harte Konkurrenz an diesem Tag.
Für die Hoffnung auf Gott ist die Schweizer Nationalhymne
zuständig. Wenn man sie nicht auswendig kann, nimmt man
am besten das Gesangbuch mit: Nummer 519. Gott wird da –
in der Reihenfolge der vier Strophen – als Hocherhabener
und Herrlicher, Menschenfreundlicher und Liebender, Unergründlicher
und Ewiger, allmächtig Waltender und Rettender besungen. Bei jeder
Wetterlage, soll bedeuten bei jeder Weltlage.
Jeremia und seine Zeitgenossen kämpften unter anderem
mit falschen Propheten. So anders sind unsere Zeiten nicht.
Fromme und textsichere Seelen ahnen und hoffen daher
inständig, dass Gott auf gar keinen Fall nur im hehren Vaterland
wirkt, sondern grenzüberschreitend.

Von: Dörte Gebhard

2. Juni

Jesus sprach zu Zachäus: Heute ist diesem Hause
Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams.
Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen
und selig zu machen, was verloren ist.
Lukas 19,9–10

Jesus war nicht wählerisch beim Essen. Er hatte oft Hunger.
Heute und hierzulande sind wohl die meisten heikler als er.
In Lenzburg läuft noch bis Ende Oktober «Hauptsache
gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen». Gesundheit
und Heilung von allen möglichen Krankheiten sind die
grossen Versprechen unserer Zeit. Sie erreichen bei manchen
Menschen die Stufe des Religionsersatzes. Dafür tun
sie fast alles. Dann kommen nur Superfood und perfekt
abgestimmte Spurenelemente auf den Tisch.
Zu naschen gibt es auf dem interaktiven Parcours im Stapferhaus
entweder Schoggi, völlig geschmacklose Vitaminpillen
oder fein gewürzte Heuschrecken wie seinerzeit bei
Johannes dem Täufer (Markus 1,6), leider ohne Honig.
Die Seligkeit hängt gerade nicht an dem, was auf den Tisch
kommt. Zachäus lernt, dass es auf den Gast ankommt, der
sich da so frech selbst eingeladen hat. Aber viele Gäste
zu haben, ist gesundheitsförderlich: «Der Fokus auf hundert
Prozent physiologische Gesundheit isoliert uns. Wir
unterschätzen den Einfluss der gemeinsamen Mahlzeit auf
die soziale Gesundheit. Dort wo die Leute besonders gesellig
leben, werden sie auch besonders alt.» (Prof. Gunther
Hirschfelder, Kulturwissenschaftler)

Von: Dörte Gebhard

1. Juni

Hanna betete: Ach, HERR Zebaot, sieh das Elend
deiner Magd an! Denk doch an mich und vergiss
deine Magd nicht! Schenk deiner Magd einen Sohn!
Dann will ich ihn dem HERRN überlassen sein
ganzes Leben lang.
1. Samuel 1,11

Hanna hat zum Leben zu wenig: kein Kind und damit keine
eigene Zukunft, kein Ansehen bei der anderen Frau ihres
Mannes und nach vielen Jahren keine Lebensfreude mehr.
Hanna hat zum Sterben zu viel: die wahrhaftige Liebe ihres
Mannes trotz ihrer Unfruchtbarkeit, das innige Gebet zu
Gott und ihre grosse Weisheit.
Sie hat schon als kinderlose Frau von Kindererziehung
mehr verstanden als viele Eltern. Denn kein Mensch kann
ein Kind haben. Es gehört den Eltern nicht. Ein Kind ist ihnen
von Gott anvertraut. Es ist eine Lebensaufgabe, eine Herausforderung,
ein Grund, täglich innig zu beten, aber niemals
Besitz. Hanna weiss das von vornherein. Vielleicht lässt sich
Klugheit von Erziehungsberechtigten zu allen Zeiten daran
messen, wann sie Hannas Weisheit zu verstehen beginnen:
wenn die Kinder das erste Mal auswärts übernachten, wenn
sie in die Schule kommen, wenn sie beginnen zu pubertieren
oder wenn sie von zu Hause ausziehen.
Hannas Weisheit wäre allerdings zu nichts nütze ohne ihr
Gottvertrauen. Sie wird den Sohn nicht irgendwann dem
Getümmel der Welt überlassen, sondern legt ihn Gott ans
Herz, schon bevor er ihr geboren wird. Aber auch wenn schon
Grosskinder auf der Welt sind, ist es dafür nicht zu spät.

Von: Dörte Gebhard