Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
Psalm 42,2

In biblischer Zeit lebten in Israel noch Hirsche. Der Psalm
stellt sich eine Hirschkuh vor, die Wasser sucht. Der Durst
treibt sie zu einem Bach. Aber das Bachbett ist nicht immer
mit Wasser gefüllt, zeitweise bleibt es ganz ausgetrocknet.
Beim Hirsch wird das Durstgefühl immer stärker. Er schreit
nach Wasser, wie Martin Luther übersetzte. Der Durst ist
eine Erfahrung, die wir Menschen mit den Tieren teilen. Die
trockene Kehle muss trinken können, sonst hält sie es nicht
lange aus. Was man gewöhnlich mit «Seele» wiedergibt,
heisst wörtlich «Kehle». Hier ist der Ort, wo der Mensch
seine Bedürftigkeit erlebt. Er ist darauf angewiesen, dass er
essen und trinken kann. Die Kehle ist aber auch der Ort,
wo wir unsere Lebendigkeit zum Ausdruck bringen, mit der
Stimme und der Sprache. Wir klagen und weinen, wir lachen
und danken. Der Psalm spricht die Erfahrung an, dass es
im Glauben manchmal eine Durststrecke gibt. Zu gewissen
Zeiten ist Gott für den Betenden weit weg. Aber der Psalm
zeigt einen Weg, mit der Durststrecke umzugehen. Er behält
Zeiten in Erinnerung, in denen sich die Seele darüber freute,
dass Gott nahe war. Der Mensch kann ein Selbstgespräch
mit der Seele führen und ihr sagen: «Warte auf Gott, denn
ich werde ihm noch einmal danken für seine Hilfe.» (Vers 6)

Von: Andreas Egli