Schlagwort: Ruth Näf Bernhard

31. Juli

So hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine
Gnade walten über denen, die ihn fürchten.
Psalm 103,11

Das Buch, das vor mir liegt, trägt den Titel: «Liebste Wörter.
Auch ein Notizbuch.» Das bedeutet, dass die Seiten mehr
leer sind als voll. Und dort, wo sie voll sind, stehen jeweils
nur einzelne Wörter für sich. Liebste Wörter. Immer zehn.
Derart, wie man sie in den Tagebüchern von Albert Camus
gefunden hat. Auf die Frage nach seinen zehn liebsten Wörtern
hat er nämlich notiert: Die Welt. Der Schmerz. Die Erde.
Die Mutter. Die Menschen. Die Wüste. Die Ehre. Das Elend.
Der Sommer. Das Meer.
Im genannten Notizbuch werden zehn andere Autorinnen
und Autoren nach ihren zehn liebsten Wörtern gefragt. Nur
einzelne Wörter. So spannend zu lesen. Weil sich dahinter
gar vieles verbirgt. Das Leben dessen, der schreibt. Zehn
kleine Welten.
Ab und zu lasse auch ich mich bewegen, meine liebsten zehn
Wörter aufzuschreiben. Aus meinem bewegten Herzen heraus.
In meinem gewöhnlichen Alltag. Es sind nicht immer
dieselben. Aber eines ist jedes Mal dabei. Gnade.
Ich kann nicht sagen, was Gnade ist. Doch ich kann spüren,
was sie bewirkt. So hoch der Himmel über der Erde ist, so
gross ist die Gnade in meinem Leben.

Von: Ruth Näf Bernhard

19. Juli

Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. Psalm 62,2

Wir wissen, dass Stille uns guttut. Nur haben wir dafür keine
Zeit. Wir haben doch alle Hände voll zu tun. Zuerst dies und
das. Danach noch jenes. Das Tun nimmt kein Ende.
Meine Seele ist stille zu Gott. Erst dann, wenn ich am Ende
bin? Oder darf es schon etwas früher sein?
Da ist etwas in mir, das still sein will. Das sich nicht länger
stören lässt. Die Stille hat einen Ort in mir. Da kann ich mich
zur Ruhe setzen. Ich bin in Gott in mir daheim.
Geborgen, geliebt und gesegnet,
gehalten, getragen, geführt
erkennen wir Gott. Er begegnet,
wenn Schweigen den Schweigenden spürt.
Geborgen, geliebt und gesegnet,
gehalten, getragen, geführt
besingen wir Gott. Er begegnet
im Wort, das uns heute berührt.

Diese Liedstrophen, die der Theologe Georg Schmid zu
Psalm 62 gedichtet hat, mögen uns heute stille werden lassen.
Stille zu Gott, der uns hilft. Bevor all das getan ist, von
dem wir meinen, dass es heute getan werden müsste.

Von: Ruth Näf Bernhard

18. Juli

Unsre Abtrünnigkeit steht uns vor Augen,
und wir kennen unsre Sünden: abtrünnig sein
und den HERRN verleugnen.
Jesaja 59,12–13

Abtrünnigkeit. Abtrünnig sein. Oder anders gesagt: untreu
werden. Sich absondern und flüchten. Vom Glauben abfallen.
Heimatlos werden. Abtrünnigkeit. Was hat dieses Wort
mit mir zu tun? Schon steht mir ein Beispiel vor Augen.
Als frischgebackene Pfarrerin besuchte ich mit meinem
Mann und einem befreundeten Paar einen Tanzkurs. Wenn
der Tanzlehrer mit einer der Kursteilnehmerinnen eine Figur
vorzeigte, fragte er als Erstes nach ihrem Beruf. Also entschied
ich mich kurzerhand, für die Dauer dieses Kurses
Verkäuferin zu sein, und bat meinen Mann und das andere
Paar, mich darin zu unterstützen. Ich wollte mir fragende
Blicke und Diskussionen über Sinn und Unsinn von Glauben
und Kirche ersparen. Dass ich mit dieser Lüge nicht nur
Gott, sondern auch mich selbst verleugnete, wurde mir erst
später klar. Ich habe etwas gelernt. Über das Tanzen hinaus.
Bis heute.
Ich fülle ein Formular aus vor einem chirurgischen Eingriff.
Beim Beruf zögere ich. Pensioniert oder Pfarrerin? Ich entscheide
mich für Pfarrerin. Damit jene, die für mich sorgen
werden, wissen, dass ich daran glaube, dass für mich gesorgt
ist. Über diesen Eingriff hinaus. Ich entscheide mich für Pfarrerin.
Damit auch ich nicht vergesse, was ich glaube.

Von: Ruth Näf Bernhard

19. Mai

Jesus sprach zu den zweiundsiebzig Jüngern:
Wenn ihr in ein Haus kommt, sprecht zuerst:
Friede sei diesem Hause!
Lukas 10,2.5

den fuss
noch nicht einmal
auf der schwelle
dem haus
dahinter
frieden wünschen
und allen
die das haus
bewohnen
der blick
in die stube
verändert sich
das brot
auf dem tisch
bricht sich
so leicht


© Ruth Näf Bernhard: Meine Seele läuft barfuss dem Wort
hinterher. Das Lukasevangelium in Gedichten gespiegelt.
TVZ 2022

Von: Ruth Näf Bernhard

18. Mai

Der HERR kennt die Gedanken der Menschen:
Sie sind nur ein Hauch!
Psalm 94,11

Unsere Gedanken sind nur ein Hauch. Wie froh bin ich, dass
Gott das weiss. Dass er weiss, dass meine Gedanken sich
ändern. Und die meiner Mitmenschen auch. Nichts von
dem, was wir denken und sagen, bleibt in Stein gemeisselt.
Auch wenn wir es oft meinen. Alles Denken bleibt vorübergehend.
Wie froh bin ich, dass Gott das weiss. Wir dürfen
unsere Meinung ändern, ohne dafür verurteilt zu werden.
Leben heisst Veränderung. Auch das Scheitern gehört dazu.

Wenn ich auch denke: Jetzt wankt mein Fuss,
stützt mich doch, HERR, deine Gnade.
Wenn dunkle Gedanken in meinem Herzen mächtig werden,
erheitert dein Trost meine Seele.
(Psalm 94,18 f.)


Unsere Gedanken sind nur ein Hauch. Wie froh bin ich,
dass Gott das weiss. Wir brauchen Nachsicht, Gnade und
Trost. Denn manchmal ist es zum Verzweifeln. Weil wir den
Worten nicht trauen können. Nicht den eigenen. Und nicht
jenen der anderen. Auch sie dürfen ihre Meinung ändern,
ohne von mir verurteilt zu werden. Wir brauchen Nachsicht,
Gnade und Trost. Damit wir dennoch vertrauen können.
Dass etwas bleibt. Dass wir nicht verloren gehen. Dass wir
aufgehoben bleiben. Sie und ich. Nicht für immer in Stein
gemeisselt. Doch aufge

Von: Ruth Näf Bernhard

19. März

Paulus schreibt: Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. 1. Korinther 13,12

Wir können vieles nicht verstehen. Nicht, was um uns herum passiert. Nicht, wie wir selbst im Leben stehen. Wir würden so gerne mehr wissen wollen. Doch letztlich bleibt immer noch etwas offen. Immer fehlt vom Kuchen ein Stück.
Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt worden bin. (Zürcher Bibel 2007)
Was ich erkenne, ist nur ein Teil. Der Spiegel spiegelt mir nicht, was ist. Ich sehe mich anders, als ich bin. Von allen ungelösten Fragen kann ich mich niemals selbst erlösen. Ich bleibe mir ein Rätsel. Mein Leben lang. Bis irgendwann. Bis dann aber bin ich auf dem Weg. Ich werde stückweise ganz. Das darf mir genügen.
Ich bin auf dem Weg. Gott ist mit mir. Dennoch fehlt immer vom Kuchen ein Stück. Ich würde doch gerne mehr davon haben. Mehr glauben, hoffen und lieben können. Von allem ein kleines bisschen mehr. Ich halte kurz inne. Gott will mit mir reden. Ich atme auf. Dann gehen wir weiter. Schritt für Schritt. Schrittweise werde ich ganz. Das darf mir genügen.

Von: Ruth Näf Bernhard

18. März

HERR, du bist meine Stärke und Kraft
und meine Zuflucht in der Not!
Jeremia 16,19

Wie oft werden solche Worte gebetet. Im Leben damals. Und im Leben heute. Wie oft werden solche Worte gesungen. Im Leben damals. Und im Leben heute. Auch von mir. Wie leicht fällt es mir, in dieses Lied einzustimmen, dass Gott mir das ist, was ich brauche. Stärke und Kraft, Zuflucht in Not. Und immer noch so vieles mehr.
Vermutlich liegt mir genau aus diesem Grund eines der vielen Taizé-Lieder besonders am Herzen. Auf der Zunge liegt es stets zuvorderst, wenn ich ansingen möchte gegen Mutlosigkeit.
Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke, mein Licht, Christus, meine Zuversicht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht.
Stärke und Kraft, Zuflucht in Not, Hoffnung und Freude, Zuversicht, Licht. Die Aufzählung allein macht es schon aus. Das Vertrauen kann beginnen. Gott ist mir, was ich brauche. Auch die Gemeinschaft macht es aus. Die Menschen, die mit mir die Aufzählung wiederholen und davon singen, was Gott ihnen ist. Das Vertrauen geht weiter mit anderen zusammen. Wenn ich Luft holen muss, singen andere für mich, was Gott mir ist und bleiben wird: Stärke und Kraft, Freude und Licht.

Von: Ruth Näf Bernhard

19. Januar

Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen. Darum kommt uns das Licht aus der Höhe zu Hilfe. Es leuchtet denen, die im Dunkel und im Schatten des Todes leben. Es lenkt unsere Füsse auf den Weg des Friedens. Lukas 1,78–79

Worte aus dem Lobgesang des Zacharias. Er hat nicht daran geglaubt, dass er in seinem hohen Alter noch Vater werden kann. Es verschlägt ihm die Sprache, als er davon hört. Er bleibt stumm bis über die Geburt seines Sohnes hinaus. Seine Zunge löst sich erst dann wieder, als er dessen Namen auf eine kleine Tafel schreibt: Johannes.
Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen. Zacharias weiss, wovon er spricht. Er hat es am eigenen Leib erlebt, was es bedeutet, wenn das Licht aus der Höhe zu Hilfe kommt. So, dass nach langen Nächten des Schweigens am frühen Morgen Lobgesang wird.
Viele Menschen beten diesen Text des Zacharias jeden Morgen. So sicher und hell soll der Tag beginnen. Wir hüllen uns ein in Gottes Erbarmen. Damit auch wir warmherzig bleiben. Nicht nur dann, wenn wir am Bettchen eines Säuglings stehen. Sondern auch dann, wenn uns Kinder entgegentrotzen. Und erst recht dann, wenn sie alle erwachsen sind. Schreiben wir dann ihre Namen auf eine Tafel. Und spüren wir, wie die Sonne aufgeht.

Von: Ruth Näf Bernhard

18. Januar

Du sollst heute wissen und zu Herzen nehmen,
dass der HERR Gott ist oben im Himmel und unten
auf Erden und sonst keiner.
5. Mose 4,39

die stimme
die
zum himmel schreit
das sehnen
das
vom himmel fällt
der säugling
der
nach himmel duftet
das alles
hat
mit gott zu tun
oder könnte es
jedenfalls
wenn man
so möchte

Von: Ruth Näf Bernhard

2. Dezember

Jesus spricht: Wer zu mir kommt und hört meine
Rede und tut sie – ich will euch zeigen, wem er gleicht.
Er gleicht einem Menschen, der ein Haus baute und
grub tief und legte den Grund auf Fels.
Lukas 6,47–48

Manchmal merkt man es erst, wenn man eine Weile darin
wohnt: Es stimmt nicht, wie es ist. Das hätte man anders
machen müssen. Bei uns zum Beispiel ist in einem Zimmer
der Lichtschalter nicht am richtigen Ort. Auch noch nach
Jahren greift meine Hand ins Leere. Ausgerechnet dann,
wenn es dunkel ist, finde ich den Lichtschalter nicht.
Wie muss es einem erst ergehen, wenn man merkt, dass das
Haus nicht sicher steht. Dass man sich beim Planen und
Bauen zeit seines Lebens geirrt hat. Dass zwar oben alles
schön aussieht, es unten aber zu wanken beginnt.
Wie muss es einem erst ergehen, wenn man denkt, man
habe auf Felsen gebaut. Zeit seines Lebens an Gott geglaubt.
Wenn nun aber trotzdem die Erde bebt und Hochwasser
sämtliche Mauern einreisst, kein Stein mehr auf dem andern
bleibt. Wenn Verletzungen, Schuld und Scham das eigene
Leben überschwemmen. Wenn Liebe stirbt. Und nichts
mehr bleibt.
Eine Zeitlang greift die Seele ins Leere. Doch sie weiss, dass
der Fels da ist. Auch nach banger Zeit im Dunkel führt mich
das Licht in mir zum Licht.

Von: Ruth Näf Bernhard