Die Gastkolumne für den Neujahrstag wurde von Rita Famos verfasst. Seit einem Jahr ist sie die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Viele Leserinnen und Leser kennen sie auch als Bolderntext-Autorin.

Jesus spricht: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.         Markus 3,35

Eine himmlische Familie?
Gerade haben wir Weihnachten gefeiert, die Bilder und Geschichten sind noch in unseren Gedanken: die himmlische Familie – Maria, Josef und das Jesuskind im Stall, vereint unterwegs.

Der Text zum Jahresbeginn nimmt uns in die Anfangszeit des Wirkens Jesu und malt ein ganz anderes Familienbild vor Augen: Jesu Familie erfährt, dass er am Lehren ist. Sie sorgen sich um ihn und wollen ihn abholen. Sie warten vor dem Haus und lassen nach Jesus schicken. Aber der will davon nichts wissen. «Wer ist das denn, meine Mutter und meine Brüder?», fragt er zurück. Er erwartet keine Antwort, zeigt auf die Men- schen in der Runde vor ihm und sagt: «Schaut, das sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.» Wir kennen es aus den letzten beiden Jahren: Familien, die sich um einzelne Angehörige den Kopf zerbrechen. Angehörige, die nicht an eine Gefährdung durch Coronaviren glauben. Solche, die es besser wissen, keine Masken tragen  möchten. Sich nicht impfen lassen. Mit seltsamen Leuten schwierige Gedanken austauschen. Manche haben versucht, ihre Brüder, Schwestern, Mütter oder Väter wieder zu erreichen. Sie in eine Wirklichkeit zurückzuholen, die sie mit ihnen teilen können. Ist Jesus verrückt geworden, dass er in die familiäre Wirk- lichkeit zurückgeholt werden muss? Nein. Und schon seine kurze Antwort lässt es erkennen: Nicht diejenigen, die ihm glauben, seiner Wahrheit vertrauen, sondern die Menschen, die sich an Gottes Willen orientieren und sich ihm verpflichtet wissen, gehören zu ihm. Jesus verfügt nicht über die Wahr- heit. Er versucht, nur mit seinem Leben und Lehren auf Gott hinzuweisen. Und deshalb sind all diejenigen, die sich auch an dieser Wahrheit orientieren, nicht seine Jüngerinnen und Jünger, nicht seine Follower oder Anhänger, sondern Brüder und Schwestern. Ja sogar seine Mütter. Sie sind  mindestensauf Augenhöhe mit ihm.

Jesus dreht sich nicht um sich selbst. Und wer ihm zuhört soll sich auch nicht um ihn drehen, sondern mit ihm nach Gottes Willen fragen. Das unterscheidet ihn von Gurus, Meinungsmachern, Selbstdarstellern. Und wie passt die Mutter in dieses Bild? Wie sollen wir Jesu Mutter sein, indem wir Gottes Willen tun? Vielleicht hat er das nur gesagt, weil seine Mutter ja mit den Geschwistern vor dem Haus auf ihn gewartet hat. Aber es hat möglicherweise einen tieferen Sinn: Dort, wo Menschen Gottes Willen tun, bringen sie Jesus in die Welt. Sie bringen ihn zur Welt, wo sie Gerechtigkeit üben, einander sanftmütig, grosszügig und friedlich begegnen. Wie in einer himmlischen Familie.

Von Rita Famos