Schlagwort: Dorothee Degen-Zimmermann

18. Februar

Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du guter
und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen,
ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude!
Matthäus 25,21

Drei Knechten wird je ein unterschiedlich grosser Geldbetrag anvertraut, «jedem nach seinen Kräften» – so das Gleichnis. Damit sollen sie während der Abwesenheit des Herrn arbeiten. Knecht eins und zwei verdoppeln den Betrag und werden vom Herrn dafür gelobt – siehe oben. Der dritte Knecht verlocht das Geld, gibt es dem Meister vollständig (mit Erde dran) zurück und meint, er sei fein raus. Ist er nicht. Als «faul und bös» wird er getadelt und bestraft.
Ich blicke auf den vor mir liegenden Tag als «anvertrautes Gut». Was ist heute dran? Worauf lasse ich mich ein? Wem begegne ich? Wer hilft mir? Wem helfe ich? Wo bedarf es der Geduld? Gibt es Neues zu entdecken? Was muss sein heute, und was darf ich getrost beiseitelassen?
«Anvertraut» – da liegt Vertrauen drin. Mir wird das Leben zugetraut und zugemutet. Es anzunehmen, ist nicht ohne Risiko. Aber Verweigerung bringt mich nicht weiter.
Wie werde ich am Abend auf den Tag zurückschauen? Vielleicht mit diesem Abendlied von Günter Balmers:
Ein Tag ist vorüber, ein Tag meiner Zeit,
geliehene Stunden, begrenzt und doch weit
für Wünsche und Wagnis, für Handeln und Sein.
Hab Dank für den Tag, Herr, hab Dank, er war dein.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

Mittelteil Januar / Februar

Was spriesst denn da?


Im Frühling 2022 liess ich beim Stützpfosten unseres Balkons
vom Gärtner eine Glyzinie pflanzen – nach Absprache mit
den Nachbarinnen und der Verwaltung. Ich spannte Schnüre
zum Balkongeländer hinauf, band die ersten Triebe daran
fest, um ihnen den Weg nach oben zu erleichtern, und goss
die Pflanze in den ersten Wochen regelmässig.
Sie gedieh. Schon im ersten Sommer guckte sie vier Meter
ab Boden über unser Balkongeländer. Wir bahnten ihren
Aufstieg mit weiteren Schnüren.
Nun hat sie im zweiten Sommer bereits den zweiten und
dritten Balkon erreicht, und wir überlegen, ob und wie wir
uns weiter zuwachsen lassen wollen. Für nächstes Jahr hoffen
wir auf die ersten Blüten.
Was mich immer neu fasziniert: Wenn die Verhältnisse stimmen
– Erde, Wasser, Luft, Licht –, dann wächst meine Glyzinie
– oder irgendeine Pflanze – unwiderstehlich. Diese
Kraft! Natürlich stellen Pflanzen unterschiedliche Ansprüche
an ihren Standort, und manchmal erwächst dem, was
ich gepflanzt habe, auch unliebsame Konkurrenz. Aber
dass diese alte Erde, von uns Menschen ausgebeutet und
geschunden, immer noch Grün hervorbringt, lässt mich
staunen und danken.
Und es macht Hoffnung.
Denn die gleiche Schöpferkraft, die es auf dieser Erde spriessen und grünen lässt, wirkt auch am Kommen der neuen Schöpfung. Sie beginnt im Verborgenen – hat längst begonnen! Ihr Kommen wird in der Bibel mit dem verglichen, was wir kennen: mit Werden und Vergehen, mit Wachsen und Reifen in der Natur.
Denn wie der Regen und der Schnee herabkommen vom Himmel und nicht dorthin zurückkehren, sondern die Erde tränken und sie fruchtbar machen und sie zum Spriessen bringen und Samen geben dem, der sät, und Brot dem, der isst, so ist mein Wort, das aus meinem Mund hervorgeht. Nicht ohne Erfolg kehrt es zu mir zurück, sondern es vollbringt, was mir gefällt, und lässt gelingen, wozu ich es gesandt habe. (Jesaja 55,10.11)
Wenn in der Offenbarung das «neue Jerusalem» von oben herabkommt, heisst das wohl nicht, dass es fixfertig vom Himmel fällt, sondern dass es eine andere, eine «himmlische» Qualität hat.
In den Gleichnissen hat Jesus oft Bilder aus der Natur benützt. Kurz vor seiner Passion hat er über sich selbst gesagt: Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. (Joh. 12,24)
Wir feiern Erntedank, schauen zurück auf das Gute, das uns gegeben wurde – dass wir alles bekommen haben, was wir zum Leben brauchen. Und wir fassen Hoffnung im eigenen Alt- und Älterwerden in einer Welt, in der sich die Katastrophen- und Schreckensmeldungen zu jagen scheinen. Gottes neue Welt wächst im Verborgenen und ab und zu sichtbar: Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht? (Jesaja 43,9)


Von: Dorothee Degen-Zimmermann

8. Januar

Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte. Jesaja 9,2

Ich schreibe diese Zeilen im Herbst. Gerade war ich auf dem Markt: Nie sind die Gemüsemärkte schöner, bunter, üppiger, reichhaltiger als um diese Jahreszeit.
Ernte, das ist Lebensfreude, Fülle, Dankbarkeit, satt werden. Es hat genug, es reicht durch den Winter.
Die Frauen und Männer auf den Landwirtschaftsbetrieben haben durchs Jahr hart dafür gearbeitet. Aber sie haben die Äpfel und Birnen, Salatköpfe, Kürbisse, Bohnen und Tomaten nicht gemacht. «Nur» gesät, gepflanzt, gejätet, begossen und schliesslich geerntet.
«Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte.» So sinnlich ist Gottesfreude? Gott, unsichtbar, unhörbar (fast immer), hat die Menschen mit den fünf Sinnen ausgestattet, und sinnlich sollen-dürfen-wollen wir uns vor ihm freuen. Vor ihm, unter seinen Augen. Sein liebevoller Blick ist ein Versprechen: Ich habe dich gesehen. Es hat genug für dich.
Mich irritiert das unpersönliche «man» der Luther-Übersetzung: «Vor dir freut man sich …» Es klingt so fremd nach der persönlichen Anrede («Vor dir»). Im vorangehenden Vers 1 erfahren wir aber, wer gemeint ist: «Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein grosses Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.» Passt doch gut ins Januarloch.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

18. Dezember

Er stösst die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Lukas 1,52

Elisabeth und Maria: Zwei Frauen sind schwanger, die eine nach der Zeit, die andere vorzeitig, beide überraschend, unverhofft, aber nicht unerwünscht. Sie ahnen das Grosse, das ihnen geschieht. Die Freude bricht förmlich aus ihnen heraus. «Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd», jubelt Maria.
Was sie am eigenen Leib erfährt, geht himmelweit, erdenweit über sie hinaus. «Gewaltiges hat er vollbracht mit seinem Arm, zerstreut hat er, die hochmütig sind in ihrem Herzen, Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen.» (Lukas 1,51–53)
Dieses Staunen, dass Gott die Machtverhältnisse umdreht, nicht auf den Kopf stellt, sondern endlich auf die Füsse. Grosses wird klein, Kleines wird gross, «underobsi», das Untere wird nach oben gekehrt. Der König der Könige wird in einem Stall geboren, der Meister wäscht seinen Jüngern die Füsse, die Letzten werden Erste sein und die Ersten Letzte.

Und was macht das mit mir? Juble ich mit, wenn Hungrige
satt werden? Zähle ich mich zu den Reichen, die leer ausgehen? Lasse ich mich ein auf diese neue Welt- und Werteordnung?

von: Dorothee Degen-Zimmermann

18. Oktober

Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.
Lukas 6,20

Sie warten. Es sind viele, «eine grosse Menschenmenge»
(Vers 6,17), teils von weither gekommen, zu Fuss natürlich.
Sie warten auf den Rabbi Jesus. Man weiss, dass er mit einem
Dutzend junger Männer auf den Berg gestiegen ist. Von da
muss er ja irgendwann herunterkommen. Ihr Mangel hat
sie auf den Weg gebracht. Sie wollen den Rabbi hören, ihn
wenn möglich berühren, denn von ihm gehe eine heilende
Kraft aus, sagt man.
Endlich ist Jesus da, schaut sie alle an, sieht ihr Elend,
ihre Bedürftigkeit, ihre Sehnsucht nach Kraft, nach Ganzsein,
nach was denn? – und gratuliert ihnen: «Selig seid ihr
Armen!» Denn nur deswegen seid ihr mir gefolgt. Und für
euch, genau für euch ist das Beste bereit, was es gibt: das
Reich Gottes, das man nur mit leeren Händen empfangen
kann. Jesus spricht aus Erfahrung, er weiss, wie es ist, arm
zu sein. Und er trägt in sich das Reich Gottes, das ihn jetzt
schon jubeln lässt.
«Jünger» sind nicht nur die Zwölf, die mit Jesus auf dem
Berg gewesen sind und dort ihre Berufung erlebt haben.
«Jünger» werden auch die Vielen genannt, die ihm gefolgt
sind, um ihn zu hören, um gesund zu werden. Sie brauchen
keine besondere Berufung, um Jesus zu folgen. Der Mangel
und das Verlangen, von ihm berührt zu werden, haben sie
auf den Weg gebracht. Ihnen wird das Reich Gottes zugesagt,
mehr, als sie sich je erträumt haben.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

18. August

Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst
und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heissen im
Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird gross
heissen im Himmelreich.
Matthäus 5,19

Eine kleine Begebenheit vorab: Ich schaue einer Bekannten
zu, wie sie den Kopfsalat rüstet. Nicht von aussen nach innen,
wie ich es gewohnt bin, sie schneidet den Strunk weg, löst als
Erstes das «Herzli» heraus, danach die Blätter von innen nach
aussen. «So habe ich die besten Blätter in meinem Salat»,
sagt sie verschmitzt. Auf die Idee bin ich noch nie gekommen.
Nun zum Losungstext: Sollte er tatsächlich eine Anweisung
sein, sich noch pingeliger an die Gesetze zu halten als die
gesetzestreuen jüdischen Führer? «Wenn eure Gerechtigkeit
die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft,
werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.» (Vers 20)
Wenn der Text nicht an prominentester Stelle, nämlich in
der Bergpredigt, stehen würde, ich würde ihn als «unverdaulich
» beiseitelegen.
Wie ist denn Jesus selbst mit dem mosaischen Gesetz
umgegangen? Er war ja wegen des Sabbat-Gebots im Dauerclinch
mit den Pharisäern. Ich glaube, er hat das Gesetz von
der Mitte, vom Herzstück her erfüllt. «Was ist das höchste
Gebot?» – Die Liebe zu Gott und zum Nächsten, «wie dich
selbst». Das hat er gelebt, auch am Sabbat. Darum hat er
selbst am Sabbat Kranke geheilt und geknickte Menschen
aufgerichtet. Es hat ihn letztlich das Leben gekostet.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

18. Juni

Himmel und Erde sind dein, du hast
gegründet den Erdkreis und was darinnen ist.
Nord und Süd hast du geschaffen.
Psalm 89,12–13


Seit am Nordpol das Eis zu schmelzen beginnt, bringen sich
die Mächtigen der Anrainerstaaten in Stellung. Nicht etwa
um den Lebensraum der Inuit oder der Eisbären zu schützen.
Nein, das offene Wasser ist für die Schifffahrt interessant und –
vor allem – für die Erforschung der Bodenschätze. Seltene
Erden werden dort vermutet, die in modernen Technologieprodukten
verwendet werden.
First come, first served? Wem gehören die seltenen Erden?
Wem gehören Himmel und Erde? Es ist unserem Planeten
nicht gut bekommen, dass die Gattung «Mensch» ihn als
ihr Eigentum betrachtet und rücksichtslos ausgebeutet hat.
«Macht euch die Erde untertan» (Genesis 1,22) – da haben
wir wohl etwas gründlich falsch verstanden und erhalten
jetzt die Quittung. Wie konnte es nur so weit kommen?
Es geht auch anders. Gotteslob und Respekt vor den Mitgeschöpfen
beginnen mit dem Staunen. Auf einem Berg
stehend überwältigt werden von der Rundsicht, im Sommerwald
den Duft des Harzes einatmen, ein wundersames
Wesen wie die Blauflüglige Ödlandschrecke (das Tier des Jahres
2023 von Pro Natura) kennen lernen: Aus dem Staunen,
der Bewunderung wachsen Dankbarkeit, Liebe und Respekt.
«Grosser Gott, wir loben dich; Herr, wir preisen deine Stärke.
Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.»

Von: Dorothee Degen-Zimmermann

18. April

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. 2. Timotheus 1,7

Paulus scheint seinen jungen Freund und Mitarbeiter Timotheus
gut zu kennen. In einem Brief macht er ihm Mut in
seiner herausfordernden Situation als Gemeindeleiter und –
wer weiss? – auch sich selbst im Gefängnis. Der «Geist der
Verzagtheit», so die Zürcher Übersetzung, ist auch mir nicht
unbekannt. Mutlos, niedergeschlagen, alles grau in grau.
Kraftlos, mit mir selbst beschäftigt, verwirrt. Wie komme
ich da wieder raus?
Paulus setzt der Verzagtheit einen anderen Geist entgegen:
den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Genau,
was die Verzagten brauchen!
Kraft – sie reicht für das, was jetzt gerade nötig ist, lässt
gelingen, was vorher unmöglich schien.
Liebe – sie wärmt das Herz und öffnet die Augen für die
Menschen neben mir, die der Hilfe bedürfen und Hilfe geben.
Besonnenheit – sie durchschaut die irrationalen Ängste
und schafft Raum für «realistisches» Gottvertrauen.
Kraft, Liebe und Besonnenheit sind Gottesgaben, nicht nur
für Timotheus, «uns gegeben», schreibt Paulus.
«Schäme dich nicht, Zeugnis abzulegen für unseren
Herrn», fährt er fort (Vers 8), «auch nicht dafür, dass ich für
ihn im Gefängnis bin, sondern ertrage für das Evangelium
Mühsal und Plage in der Kraft Gottes.»
Und mit Liebe und Besonnenheit.
Das ist genug, um den Tag zu bestehen.

Von: Dorothee Degen-Zimmermann