Autor: Ruth Näf Bernhard

1. Februar

Der HERR schaut vom Himmel auf die Menschenkinder, dass er sehe, ob jemand klug sei und nach Gott frage. Psalm 14,2

Und was findet er da?
Er findet Menschen, die am Suchen sind. Menschen, die sich um Antworten bemühen. Sie wollen dem Leben einen Sinn abgewinnen. Sie wollen wissen und verstehen. Und von anderen verstanden werden.
Er findet Menschen, die glauben, die Antworten zu kennen. Weil sie Gott an ihrer Seite wissen. Mag sein, sie halten sich für klug. Weil sie ihren Weg klar vor sich sehen. Und es verstehen. Das mit dem Leben. Und das mit dem Sinn.
Er findet Menschen, die sich hinterfragen. Sie fragen nach Gott. Und sie stossen dabei stets auf weitere Fragen. Und sie möchten von diesen Fragen erzählen. Und andere davon überzeugen, dass Gott hinter all diesen Fragen steckt. Dass er, anstatt im Himmel zu wohnen, sich in den Fragen auf Erden versteckt.
Und er findet Menschen, ganz gewiss, die daran glauben, dass Gott sich der Menschenkinder erbarmt. Ob sie nun zu diesen oder jenen gehören. Und dass auch nicht eines verloren geht.

Von: Ruth Näf Bernhard

2. Dezember

HERR, sei mir gnädig, denn mir ist angst! Psalm 31,10

Ja, mir ist angst. Natürlich kann ich es überspielen. Wenn ich in Gesellschaft bin. Ich kann es auch irgendwo verstecken. Möglichst weit weg. In einer Schublade zuoberst zuhinterst. Dort bleibt es, bis wieder Zeit ist dafür. Oder bis ich mit mir allein bin. Ich kann es auch gut rational betrachten. Immerhin gibt es wissenschaftliche Belege. Ich könnte also durchaus beruhigt sein.
Aber nein, mir ist angst. Da gibt es einen kleinen schwarzen Punkt. Man sieht ihn kaum. Doch ich spüre ihn. Er bringt mein Leben durcheinander. Dieser kleine Punkt in meinem Hirn. Er bringt mich aus dem Gleichgewicht. Mehr, als ich will. Mein Wille ist da nicht gefragt. Nur mein Vertrauen. Ich buchstabiere: Sei mir gnädig. Doch ich weiss nicht, was jetzt «gnädig» heisst. Dass meine Angst verschwindet? Dass dieser Punkt verschwindet? Dass dieser Punkt nicht grösser wird? Dass dieser Punkt nicht mein Leben bestimmt?
Sei mir gnädig, denn mir ist angst! Ich versuche es heute einmal so:
«Bitte lass mich die Freude nicht verlieren. Und bitte auch
nicht die Dankbarkeit. Vielleicht hast du noch etwas Weite
für mich. Und ein neues Gleichgewicht.»

Ja, ich glaube, so könnte es gehen.

von: Ruth Näf Bernhard

1. Dezember

Siehe, ich will mein Volk schmelzen und prüfen. Jeremia 9,6

Es gibt Prüfungen, auf die man sich vorbereiten kann. Oder sich vorbereiten muss. Weil sie angekündigt werden. Ort, Zeitpunkt und Dauer sind bekannt. Man lernt darauf und besteht sie. Oder man lernt nicht darauf und besteht sie nicht. Oder man lernt darauf und besteht sie trotzdem nicht. Oder man lernt nicht darauf und besteht sie trotzdem.

Es gibt Prüfungen, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Erst während der Prüfung realisiert man, dass man geprüft wird. Erst während der Prüfung beginnt man zu lernen. Erst während der Prüfung beginnt man zu verstehen, was damit vielleicht gemeint sein könnte. Was daraus vielleicht gelernt werden müsste. Was wir für unser Leben lernen sollten. Was uns das Leben lehren will. Oder was Gott uns vielleicht sagen möchte.

Wir werden geprüft. Von Zeit zu Zeit. Plötzlich stecken wir mittendrin. Wir wissen nicht, wie lange es dauert. Auch nicht, ob wir schliesslich bestehen werden. Nicht einmal, ob wir bestehen müssen. Vielleicht genügt es bereits, geprüft zu werden. Sich nicht dagegen zu wehren. Sich durch diese Prüfung verändern zu lassen. Und sie nicht als Strafe Gottes zu sehen. Um Gottes willen, nein! Auf den ersten Blick wäre das zwar einfach. Mit Blick auf Gott aber allzu einfach.

von: Ruth Näf Bernhard

2. Oktober

Des Mondes Schein wird sein wie der Sonne Schein,
und der Sonne Schein wird siebenmal heller sein zu
der Zeit, wenn der HERR den Schaden seines Volkes
verbinden und seine Wunden heilen wird.
Jesaja 30,26

im rückblick
siehst du
schon
das licht
das dereinst
wieder
leuchten wird
auch wenn es
jetzt noch
finster ist


Ruth Näf Bernhard: Halte uns im Leben wach.
© 2023 Echter Verlag, Würzburg

1. Oktober

Ich bin der HERR, der Barmherzigkeit, Recht
und Gerechtigkeit übt auf Erden.
Jeremia 9,23

die einen
tun es
die andern
stehen da
schauen zu
schauen weg
und schweigen
und lassen
damit jenen
die es wieder tun
denn sie tun es sicher wieder
die türen offen
getanes unrecht
fortzusetzen
und wer
von allen
ist nun schuld

Ruth Näf Bernhard: Halte uns im Leben wach.
© 2023 Echter Verlag, Würzburg

2. August

Paulus schreibt: Unsre Hoffnung steht fest für euch,
weil wir wissen: Wie ihr an den Leiden teilhabt, so habt
ihr auch am Trost teil.
2. Korinther 1,7

Wir stehen am offenen Grab. Sie haben ihr Kind verloren.
Ihre Trauer kann man nicht messen. Erschüttert bewegen
wir uns Richtung Kirche. In der Predigt suche ich nach einem
Bild für die Hoffnung. Wie sie in der Bibel steht. Ich finde,
was ich suche, in einem Gedicht. Emily Dickinson schreibt:
«Die Hoffnung ist das Ding mit den Federn, das sich in der
Seele niedergelassen hat.»
Nach der Trauerfeier lassen wir Ballone steigen. Viele kleine
weisse Punkte, die im Blau des Himmels verschwinden. Da
beginnt überraschend ein Raunen und Staunen. Hoch oben
fliegen zwei Störche vorbei.
Ich bleibe mit den Eltern in Kontakt. So vernehme ich einige
Monate später, dass sie guter Hoffnung sind. Zwillinge sind
es, stell dir vor, wirst du sie dann taufen?
Die Hoffnung ist das Ding mit den Federn. Zwei Namen auf
der Geburtsanzeige. Und vorne ein vertrautes Bild: die beiden
fliegenden Störche am Himmel.
Im Taufgespräch haben mich die Eltern gebeten, Patin für
ihre Kinder zu werden. Das Ding mit den Federn hat sich
eingenistet. Die Hoffnung macht aus uns allen Verwandte.

Von: Ruth Näf Bernhard

1. August

Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte
und meine Zuversicht setze auf Gott den HERRN, dass
ich verkündige all dein Tun.
Psalm 73,28

Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte. Oder im
Wortlaut der Zürcher Bibel: «Mein Glück aber ist es, Gott
nahe zu sein.» Ein schöner Satz. Eine klare Botschaft. Ganz
und gar nicht sperrig. Als ob es denn so einfach wäre. Das
mit dem Glück. Und das mit Gott. Dass dem nicht so ist, das
weiss der Psalmbeter nur allzu gut. Er kennt den stechenden
Schmerz in den Nieren, der ihn überfällt bei Bitterkeit. Wenn
es andern viel besser geht als ihm.
Mein Glück ist es, Gott nahe zu sein. Auch wenn mir Gott
manchmal sperrig erscheint. Ich kann Nähe spüren, ohne
alles zu wissen. Mein Glück hängt nicht vom Verstehen ab.
Mich zu freuen, kann eine Entscheidung sein.
Fragte man meine Mutter, wie es ihr gehe, so sagte sie stets:
«Danke, ich bin zufrieden.» Auch in Zeiten, die schwierig
waren. Und sie waren oftmals schwierig. Es war ihre Entscheidung,
zufrieden zu sein. Weil sie vom Glauben getragen
war, dass Gott in ihrer Nähe sei. Nie sprach sie davon,
es gehe ihr super. Nie: «Ich bin so glücklich, ich platze vor
Freude.» Nein, ihre Freude war leise. Beständig. «Danke,
ich bin zufrieden.» – Danke, liebe Mutter. Je länger, je mehr
beginnt sie zu wirken. Auch in meinem eigenen Leben. Diese
leise Beständigkeit.

Von: Ruth Näf Bernhard

2. Juni

Der Friede Christi regiere in euren Herzen;
zum Frieden seid ihr berufen als Glieder des
einen Leibes. Und dafür sollt ihr dankbar sein.

Kolosser 3,15


Eigentlich sind wir zum Frieden berufen. Als Glieder des
einen Leibes. Eigentlich wäre das so. Wenn da nicht so viel
anderes wäre. Wenn da nicht anderes in unseren Herzen
regierte. Und nicht der Friede Christi.
Nur heute nicht neidvoll auf andere schielen.
Nur heute nicht schlecht über andere reden.
Nur heute nicht sich um sich selber drehen.
Eigentlich sind wir zum Frieden berufen.
Wir könnten uns mitfreuen, wo etwas gelingt.
Wir könnten «STOPP» sagen, wo gelästert wird.
Wir könnten hinhören, was andere bewegt.
Eigentlich wäre es gar nicht so schwierig. Könnte man
meinen. Das kriegen wir doch hin. Diese Beispiele sind doch
ganz banal. Ich bin nicht neidisch. Ich rede nie schlecht über
jemanden. Ich drehe mich nie nur um mich selber.
Schön für Sie!
Was mich betrifft, so bitte ich darum, dass der Friede Christi
in meinem Herzen regiere. Gerade dann, wenn ich meine, es
sei ganz banal.

Von: Ruth Näf Bernhard

1. Juni

Christus möchte ich erkennen und die Kraft seiner
Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden
und so seinem Tode gleich gestaltet werden, damit
ich gelange zur Auferstehung von den Toten.

Philipper 3,10–11


Die Kraft seiner Auferstehung möchte ich erkennen. Nicht
nur am Ostermorgen. Sondern an jedem neuen Tag. Auch
heute eines meiner Lieblingslieder singen: «Jesus lebt, mit
ihm auch ich!»
Jesus lebt! Die Grundmelodie meines Glaubens. Sie trägt.
Selbst Misstöne bringen sie nicht zum Verstummen. Auch
wenn mir zuweilen die Stimme bricht. Da wird von anderen
weitergesungen. Was ich glaube. Woraus ich lebe. Bis ich es
wieder singen kann. Mit ihm auch ich! Durch die Kraft seiner
Auferstehung bleibe ich belebt.
Jesus lebt! Jede Strophe beginnt mit diesem Bekenntnis. Und
weil jede Strophe damit beginnt, endet auch jede in derselben
Weise: «Dies ist meine Zuversicht.» Genau genommen
also gar kein Ende. Denn Zuversicht bleibt. Länger als jede
einzelne Strophe. Über das ganze Lied hinaus.
Jesus lebt! Mit ihm auch ich! Durch ihn in mir die Zuversicht.
Auch heute. Über mich hinaus.

Von: Ruth Näf Bernhard

2. April

Ich will ihr Trauern in Freude verwandeln. Jeremia 31,13

Zu dieser Verwandlung ein Psalmgedicht. Psalm 30.
damals
du weisst
in jenen tagen
als ich
mir selbst
entzogen war
die füsse
vor dem nichts
wie war ich da
wohl hingekommen
ich weiss es nicht
damals also
vor dem nichts
und ganz tief unten
da hast du
mich herausgezogen
wie weiss ich nicht
am abend
war weinen
jubel
am morgen
Für Käthi Koenig. In inniger Verbundenheit.
Aus: Ich liege wach und bin wie ein Vogel (TVZ 2020).

Von: Ruth Näf Bernhard