Autor: Andreas Fischer

9. November

Lobet den HERRN, alle seine Werke, an allen Orten
seiner Herrschaft! Lobe den HERRN, meine Seele!

Psalm 103,22

Der 103. Psalm ist einer der berühmtesten und berührendsten
biblischen Texte. Viele, vielleicht auch Sie, kennen
die ersten vier Verse auswendig. Falls nicht und Sie einen
Moment Zeit haben, lesen Sie sie nach. Sie sind von grosser
Schönheit und Tiefe.
Lange schon ist der Forschung aufgefallen, dass das Unservater
Motive aus diesen Versen aufnimmt – den heiligen
Namen, das Vergeben der Schuld, die Sättigung. Später im
Psalm kommen noch die Bilder von Gott als Vater (Vers 13)
und als Himmelskönig (Vers 19) hinzu.
Der «Vater im Himmel» ist zugleich nah wie ein Vater beziehungsweise
eine Mutter (im erwähnten Vers 13 ist vom «Erbarmen
» die Rede; das Wort im hebräischen Urtext ist verwandt
mit «Mutterschoss») und weltumspannender Pantokrator.
Entsprechend stehen in der heutigen Losung Weltall und
Seele parallel: Der ganze Kosmos erhebt seinen Lobgesang,
und auch mein Innerstes lobt Gott.
Wer weiss, vielleicht sind beide, Seele und Welt, gar nicht
voneinander getrennt, so wie auch Gottes intime Nähe und
kosmische Weite eins sind. Meister Eckhart sagt:
«Es ist eine Kraft in der Seele, die ist weiter als die ganze
Welt.»

Von: Andreas Fischer

8. November

Bist du neidisch, weil ich so grosszügig bin? So werden
die Letzten die Ersten sein.
Matthäus 20,15–16

Der heutige Lehrtext steht am Ende der Parabel Jesu von
den Arbeitern im Weinberg. Es lohnt sich, die Story wieder
einmal – möglichst unvoreingenommen – zu lesen. Dann,
scheint mir, zeigt sich: Die Güte des Gutsherrn hält sich in
engen Grenzen. Statt seine eigene Grosszügigkeit hervorzuheben
und den enttäuschten Taglöhnern vorzuwerfen,
dass sie neidisch seien, könnte er ihnen wenigstens erklären,
dass er im Moment nicht mehr übrighabe und in erster
Linie gewährleisten wolle, dass alle irgendwie durchkommen.
Stattdessen stösst er die armen Arbeiter vor den Kopf – und
mit ihnen irgendwie auch uns.
An diesem Punkt, wo man ratlos stehenbleibt, hilft die
grossartige Auslegung der Parabel durch den Schweizer
Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945) weiter: In unserem
menschlichen Bewusstsein, sagt Ragaz sinngemäss, ist die
Vorstellung tief eingeprägt, dass ich einen Anspruch auf den
von mir erworbenen Besitz habe. Diese Vorstellung mag in
dieser Welt ihr relatives Recht haben.
Die Parabel aber zeigt, dass vor Gott eine andere Wirklichkeit
gilt: Der einzige Gutsbesitzer im Himmel und auf Erden
ist Gott. Wir Menschenkinder sind allesamt Taglöhner, die
ihren täglichen Denar empfangen. Wir alle empfangen –
unverfügbar, frei von Verdienst – unser Leben sola gratia,
allein aus Gnade, Atemzug für Atemzug als Geschenk.

Von: Andreas Fischer

9. September

Andreas findet seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden. Johannes 1,41

Stilistisch klingt dieses zweifache «Finden» holprig. Auf Deutsch würde man, um die Doppelung zu vermeiden, eher schreiben: «Andreas trifft seinen Bruder.» Doch im Johannesevangelium ist die Wiederholung bedeutsam. Zunächst «findet» Andreas seinen Bruder. Gleich anschliessend (Vers 43) «findet» Jesus Philippus, und dieser wiederum «findet» Nathanael (Vers 45). All dies geschieht scheinbar zufällig. In Wahrheit aber kommt hier ein kosmischer, allumfassender Prozess in Gang. Das Finden ist Resultat jener Suche, jener Sehnsucht, von der die Alten sungen: die Suche und Sehnsucht nach dem Messias, dem Gesalbten, dem himmlischen Gesandten, der Frieden bringt hier unten auf Erden.
Ganz am Schluss des Johannesevangeliums wird der Auferstandene den Jüngern sagen, sie sollen das Netz auf der anderen Seite auswerfen, dann werden sie «finden» (Johannes 21,6). Und tatsächlich finden die Jünger 153 Fische. Die merkwürdige Zahl bezieht sich vielleicht auf die antike Ansicht, es gebe 153 Fischarten. Jedenfalls beschreibt sie eine Ganzheit, eine Totalität. Hier, am Ende des Evangeliums, kommt der Findungsprozess, der im heutigen Lehrtext beginnt, zu seinem Ziel. Am Ende wird alles, wird das All gefunden sein.
Von: Andreas Fischer

8. September

Lehre mich rechtes Urteil und Erkenntnis,
denn ich vertraue deinen Geboten.
Psalm 119,66

Man denkt als Christ gern an Jesus, der am Sabbat Ähren ausriss, Kranke heilte, mit Zöllnern zechte und insgesamt oft die Gebote übertrat. Man denkt, besonders als Protestant, an Paulus’ und Luthers «Rechtfertigung allein aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes». Man ist stolz auf die Freiheit des Christenmenschen, der nicht auf Gebote, sondern auf Jesus Christus vertraut, und fühlt sich überlegen.
Doch vielleicht ist dies alles Missverständnis und Mangel an «rechtem Urteil und Erkenntnis».
«Rechtes Urteil» im ursprünglichen Sinn des entsprechenden Worts im hebräischen Urtext bedeutet «Schmecken», wie man Honigkuchen (Exodus 16,31), Wein (Jeremia 48,11) und Gott selbst (Psalm 34,9) schmeckt. Das «Lernen» der Tora ist also ein ganzheitlicher Prozess, der «Schmecken» und «Erkenntnis» (auf Hebräisch klingt beides wortspielartig ähnlich: «Taam waDaat»), Sinnlichkeit und Verstand umfängt. Die Beziehung zur Tora und ihren Geboten insgesamt ist eben nichts Äusserliches, sondern «Konkretion des Vertrauens auf Gott» (Erich Zenger), welches den Alltag,
das ganze Leben durchdringt.
Eine solche Anleitung zu spirituellem Lernen wünschte ich mir manchmal im reformierten Jekami. Und für den heutigen Tag wünsche ich mir: Gottesgeschmack, Gotteserkenntnis.
Von: Andreas Fischer

9. Juli

Jesus nahm die Kinder in die Arme, legte ihnen die Hände auf und segnete sie. Markus 10,16

Gemäss einer schönen Anekdote wurde Paul Klee einst vorgeworfen,
so wie er könne jedes Kind malen. Seine Antwort habe gelautet: «Das
ist es eben: Die Kinder können es!» Kinder sind Künstler: spontan,
weltoffen, unmittelbar.
Indessen bedeutet das griechische Wort «Paidion» nicht nur «Kind»,
sondern auch «Säugling», «Neugeborenes». Auf dieser noch
ursprünglicheren, noch weiter im Anfang liegenden Ebene gilt:
Das Kind ist radikal abhängig, angewiesen, ausgeliefert.
«Gerade so», schreibt der Neutestamentler Eduard Schweizer
(1913–2006), «als die, die nichts vorzuweisen haben, keine
Leistungen aufrechnen können, sind sie gesegnet.»
Beide Qualitäten, die der unverstellten Kreativität und die
der radikalen Abhängigkeit, gilt es, sich im Erwachsenenleben zu
erhalten. Beziehungsweise sie zu revitalisieren, wenn sie
verschüttgegangen sind.
Es sind diese Qualitäten, welche die Tür zum Himmel öffnen.
Den Kindern, sagt Jesus, gehört das Reich Gottes (Verse 14 ff.).
Den Worten folgt die Segensgeste im heutigen Lehrtext.
«Die äussere Handlung», schreibt Schweizer, «unterstreicht,
wie real Jesus solchen Zuspruch meint.»

Von: Andreas Fischer

8. Juli

Wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben
die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben
seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen. 2. Petrus 1,16

Der Autor des heutigen Lehrtexts behauptet, seine Botschaft basiere
auf Augenzeugenschaft. In den folgenden Versen erläutert er, was mit
der «Herrlichkeit Christi», die er «mit eigenen Augen gesehen» habe,
gemeint ist, nämlich die Verklärung Jesu auf dem Tabor, dem
«heiligen Berg» (Verse 17 ff.; vgl. Markus 9,2–8).
Zwei Dinge muten bei der Argumentation merkwürdig an:
Erstens kann der Autor des 2. Petrusbriefs – darüber besteht in
der neutestamentlichen Wissenschaft Konsens – nicht der
Jesusjünger Simon Petrus gewesen sein. Und zweitens gehört jene
Lichterscheinung auf dem Tabor doch ausgesprochen in eine Welt
jenseits der augenscheinlichen Fakten. Trotzdem sollte man den
Autor unseres Lehrtexts nicht der Lüge bezichtigen. Vielmehr scheint
jenes Licht für ihn realer als die Realität gewesen zu sein, und er scheint
es in einer Intensität gesehen zu haben, als wäre er selbst auf dem Tabor
gewesen. Ähnlich wird später der Hesychasmus, die mystische Strömung
in der orthodoxen Kirche, das Taborlicht als ein überzeitliches,
transpersonales Phänomen verstehen: «Es gibt nur ein und dasselbe Licht,
das den Aposteln auf dem Tabor erschienen ist, das den gereinigten Seelen
jetzt erscheint und in dem das Wesen der zukünftigen Welt besteht.»

Von: Andreas Fischer

9. Mai

Seid allezeit fröhlich. 1. Thessalonicher 5,16

Die Freude, schreibt der grosse Schweizer katholische Theologe
Hans Urs von Balthasar (1905–1988) in einem Kommentar
zum heutigen Lehrtext mit Feuereifer, «ist striktes Gebot,
deshalb ist Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, schlechte
Laune, Verdrossenheit, mürrisches, verschlossenes Wesen,
Schwermut einfachhin Sünde». Ich bin, denke ich an dem
Nachmittag, an dem ich diese kleine Betrachtung schreibe,
ein grosser Sünder. Die Stimmung hängt situativ tief wie die
Wolken draussen am Himmel. Ich tröste mich mit der Feststellung,
die der österreichisch-amerikanische
Psychotherapeut
Paul Watzlawick (1921–2007) im Buch «Anleitung zum
Unglücklichsein» macht: Es gebe, sagt er ironisch, jene Dickhäuter,
die «schon immer der Ansicht sind, dass gelegentliche
Traurigkeit ein unvermeidbarer Teil des Alltagslebens
ist». Der heutige Lehrtext könnte als typisches Beispiel
für das gelten, was Watzlawick als Sei-
spontan-Paradoxie bezeichnet: Sich auf Befehl zu freuen, ist schwierig und kann
krank machen. Doch ist es, scheint mir, nicht diese Paradoxie,
welche der Lehrtext meint. Sondern jene, die in der Liedzeile
«In dir ist Freude / in allem Leide» (RG 652) zur Sprache
kommt. Weiter heisst es dort: «Durch dich wir haben /
himmlische Gaben.» Die Freude ist eine solche Gabe. Sie
strömt uns – «allezeit» und unabhängig von der situativen
Befindlichkeit – zu aus jener Dimension, in die Christus aufgestiegen
ist am heutigen Tag.

Von: Andreas Fischer

8. Mai

Erneuert euch in eurem Geist und Sinn. Epheser 4, 23

Die genaue Übersetzung des heutigen Lehrtexts würde
vermutlich
so lauten: «Lasst euch erneuern durch den Geist,
der in eurer Vernunft wirksam ist.» Es geht also nicht um
aktives Erneuern, sondern darum, die Erneuerung zuzulassen.
Sie erfolgt durch den «Geist», der also nicht der
menschliche, sondern der göttliche Geist ist. Weiter meint
die «Vernunft» den Intellekt, doch nicht nur, sie meint auch
umfassender eine Haltung, die sich im Handeln äussert.
Vielleicht beschreibt das neudeutsche Wort «Mindset» die
Bedeutung am besten. Und noch etwas: Die Erneuerung
erfolgt nicht plötzlich, in einem Augenblick. Vielmehr, wie
es in einem Kommentar schön heisst, werden die Christenmenschen
«immer wieder hineinversetzt in das geheimnisvolle,
wunderbare Kraftfeld dieser Erneuerung, die ihnen
widerfährt». Es erinnert mich an das Lied, das mein Vater
selig gern mit uns sang, als wir Kinder waren: «All Morgen
ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und grosse Treu»
(RG 557). Indessen ist das «Kraftfeld», welches die «Geistkraft
» (das hebräische Wort «Ruach», das auch Wind und
Atem bedeutet, ist weiblich) generiert, irgendwie noch
anders als jenes des «Herrn»: Es verbindet mich mit dem
Rauschen des Winds, mit Inspiration und Intuition und mit
meinem Atem: Zu ihm zurückzukehren, «all Morgen» und
immer mal wieder mitten im Alltag, hat tatsächlich erneuernde,
erfrischende, erquickende Kraft.

Von: Andreas Fischer

9. März

Paulus schreibt: Weil wir uns auf den Herrn verlassen, dürfen wir zuversichtlich und vertrauensvoll vor Gott treten. Darum bitte ich euch: Lasst euch nicht irremachen durch das, was ich leiden muss. Epheser 3,1213

Im Messias Jesus, heisst es in der genaueren Übersetzung der Zürcher Bibel, «haben wir Freiheit und Zugang zu Gott». Diesen Zugang zu Gott ermöglicht der Messias, indem er die Hindernisse in den überirdischen Sphären durchbricht. Dem modernen Menschen sind die als «Mächte und Gewalten» (Vers 10) bezeichneten kosmischen Obstakel – Hindernisse – vielleicht fremd geworden; dass es aber überpersönliche Kräfte gibt, «biologische, soziale, politische und geistige Wirklichkeiten, Gesetze, Gesetzmässigkeiten, Anlagen, Traditionen usw.» (Petr Pokorny), leuchtet ein. Ihnen können wir in «Freiheit» gegenübertreten, wie freie Bürger in antiken griechischen Städten – deren Recht auf freie Meinungsäusserung meint das entsprechende Wort im Urtext.

In diese Freiheit führt die Fastenzeit, in der wir stehen. Beim Zugang zu Gott – vermittelt durch den gekreuzigten Messias – ist «Leiden» kein Indiz für die Absenz des Ewigen. Im Gegenteil: Im Kreuz ist Heil oder, wie Leonard Cohen sagt: «There’s a crack in everything, that’s how the light gets in.» («In allen Dingen gibt es einen Bruch; auf diese Weise dringt das Licht ein.»)

In diese Einsicht führt die Passionszeit, in der wir stehen.

Von: Andreas Fischer

8. März

Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Römer 11,29

«Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?» lautete Luthers Frage. Es ging dem Augustinermönch um sein Seelenheil. Indessen fragt man sich: Welches fühlende, mitfühlende Menschenkind kann im Anblick des drohenden globalen Kollapses ernstlich besorgt sein um seine persönliche «Rechtfertigung» vor Gott?

In diesem Zusammenhang mag die Beobachtung des deutschen Neutestamentlers Ernst Käsemann (1906–1998) von Bedeutung sein, dass es bei der «Rechtfertigungslehre» des Apostels Paulus genuin gar nicht ums Seelenheil ging. Sondern ums Ganze, das Ziel des Kosmos, das Ende der Erde.

Entsprechend gilt unser heutiger Vers nicht einer skrupulösen Seele, sondern den Juden und Heiden, der Menschheit, allen Wesen der Welt (vgl. die Fortsetzung Verse 30–36 und den ganzen Zusammenhang in Römer 9–11).

«Nicht gereuen» steht im griechischen Urtext betont am Anfang. Darauf liegt alles Gewicht. Es ist eine erstaunliche Aussage; in der Bibel steht auch anderes, zum Beispiel: «Da reute es den EWIGEN, dass er den Menschen gemacht hatte.» (1. Mose 6,6) Doch Paulus, dessen «Rechtfertigungslehre» eben «geschichtliche Tiefe und kosmische Weite» (Käsemann) hat, glaubt, dass alles, dass das All – bedingungslos, so, wie es ist – in Gott geborgen ist und schliesslich heimgerufen wird ins göttliche Licht.

Von: Andreas Fischer