Autor: Andreas Egli

6. Dezember

O HERR, hilf! O HERR, lass wohlgelingen! Psalm 118,25

Für den Ruf um Hilfe kennt die Bibel ein eigenes Wort.
Laute Schreie drücken die Not und die Verzweiflung aus, die
jemand in einer extremen Situation erlebt. Menschen sind
in einer Notlage, die sie nicht allein bewältigen können. Sie
wenden sich an jemanden, dem sie zutrauen, dass er helfen
kann. Zum Beispiel an den König, der in einer lebensbedrohlichen
Not für Gerechtigkeit sorgen soll. Oder an Mitmenschen,
die zufällig anwesend sind und ihre Augen vor einer
Gewalttat nicht verschliessen sollen.
Der gleiche Ruf wird auch an Gott gerichtet. Im Buch der
Richter heisst es mehr als einmal: «Die Israeliten schrien zum
HERRN um Hilfe. Und der HERR liess für die Israeliten einen
Helfer aufstehen. Und er kam ihnen zu Hilfe: Otniel, der Sohn
von Kenas.» (Richter 3,9)
Gott lässt die Leidenden nicht allein. Er schickt jemanden,
der ihnen zu Hilfe kommt. Jemanden, der Hilfe in ihre
schwierige Situation bringt. Der Losungsvers enthält genau
den Wortlaut eines solchen Hilferufs: «Ach, HERR, komm
doch zu Hilfe! Ach, HERR, lass es doch gelingen!» Die Wörtchen
«ach» und «doch» unterstreichen die Dringlichkeit,
sie stehen für die Lautstärke des Schreis. Im zweiten Teil des
Verses steht die Bitte: Die Hilfe soll nicht nur ein gutgemeinter
Versuch sein. Sie soll tatsächlich Erfolg haben.

Von: Andreas Egli

5. Dezember

HERR, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!
Psalm 85,8

Was meint das Wort chäsäd, das hier mit Gnade, besser
aber mit Güte übersetzt wird? Ein Beispiel findet sich in den
Erzählungen über Josef. Er sitzt im Gefängnis und lernt dort
einen Mitgefangenen kennen, den Obermundschenk des
Pharao. Dieser erzählt einen Traum, und Josef gibt ihm eine
hoffnungsvolle Deutung. Er werde in drei Tagen aus dem
Gefängnis entlassen und könne sein Amt wieder übernehmen.
Josef schliesst eine persönliche Bitte an: «Aber denk
an mich, wenn es dir wieder gut geht. Tu mir bitte einen
Gefallen. Ruf mich beim Pharao in Erinnerung und hilf mir,
dass ich das Gefängnis verlassen kann.» (1. Mose 40,14) Güte
ist eine gegenseitige Solidarität in einer Beziehung. «Tu mir
bitte einen Gefallen.» Güte zeigt sich darin, dass jemand
dem anderen etwas zuliebe tut. Sie geht über das hinaus,
was eine selbstverständliche Pflicht wäre. Güte ist die Bereitschaft,
für einen anderen da zu sein, der es nötig hat. Güte ist
aber nicht garantiert, und Josefs Bitte wird enttäuscht: «Der
Obermundschenk dachte nicht mehr an Josef und vergass
ihn.» (1. Mose 40,23)
Anders ist es, wenn die Bibel mit dem Wort Güte von Gott
spricht. «Danket dem HERRN, denn er ist gut. Ja, für alle Zeit
ist seine Güte.» (Psalm 136,1) Mit diesem Vertrauen bittet
der Losungsvers: «Lass uns, HERR, deine Güte sehen und
gib uns deine Hilfe.»

Von: Andreas Egli

6. Oktober

Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde die
Güte des HERRN im Lande der Lebendigen.
Psalm 27,13

Zwischen Angst und Vertrauen bewegt sich das Gebet im Psalm 27. Die Angst wird ausgelöst durch das Verhalten feindlicher Menschen. Der Beter fühlt sich belagert wie von einem gegnerischen Heer, in seiner Existenz bedroht wie durch einen verfälschten Gerichtsprozess. Vertrauen findet er in den Momenten, in denen er die Nähe Gottes sucht. Er erinnert sich an einen Besuch im Tempel und möchte den Segen erhalten, der vom «leuchtenden Angesicht» Gottes ausgeht. Der Losungsvers ist eigentlich ein Satz, der nicht zu Ende geführt ist. Er beginnt in einer anderen Übersetzung mit «wenn nicht»: «Wenn ich nicht darauf vertraut hätte, die Güte des HERRN zu sehen im Lande des Lebens …» Man erwartet einen zweiten Teil, der mit «dann» anfängt. Aber hier fehlt etwas. Wir sind eingeladen, uns die Fortsetzung vorzustellen. Was kommt Ihnen in den Sinn? Vielleicht: «Dann könnte ich jetzt nicht dankbar sein.» – «Dann hätte ich nicht durchhalten können.» – «Gerade noch einmal gut gegangen.» Der Satz ist gewissermassen ein tiefer Atemzug, ein Seufzer der Erleichterung. Die Angst ist vorbei, und das Vertrauen hat sich bewährt. Vertrauen zu können, ist mindestens so konkret, wie sich zu fürchten. Von Gott kommt etwas Gutes, man kann es sehen. Und zwar nicht irgendwann, sondern in diesem Leben.

Von: Andreas Egli

5. Oktober

Es sei Gutes oder Schlechtes – auf die Stimme des HERRN, unseres Gottes, werden wir hören. Jeremia 42,6

«Auf die Stimme des HERRN hören» ist ein wichtiger Ausdruck im Jeremiabuch. Die Autoren formulierten damit ihr grösstes Anliegen: Die Israeliten sollen auf die göttlichen Gebote hören und ihnen gehorchen. In vielen Fällen geschieht das aber nicht. So ist es auch in der letzten Erzählung über den Propheten Jeremia. Jerusalem ist schon von den Babyloniern erobert, nur ein Teil der Bevölkerung lebt noch hier. Unter diesen Leuten kommt die Idee auf, nach Ägypten zu fliehen. Sie bitten Jeremia, Gott nach seinem Willen zu befragen. Die Anfrage ist verbunden mit dem feierlichen Versprechen: «Ob gut oder schlecht, auf die Stimme des HERRN, unseres Gottes, zu dem wir dich schicken, werden wir hören.» Es kommt jedoch ganz anders heraus. Von einer Flucht nach Ägypten rät Jeremia entschieden ab. Er meint, man müsse realistisch sein und die babylonische Vorherrschaft akzeptieren. Aber niemand will diesen Rat annehmen. Die Flucht findet statt, auch der Prophet muss mit. Er stellt fest: «Ihr habt nicht gehört auf die Stimme des HERRN, eures Gottes.» (Vers 21) Das Hören auf Gott ist offenbar schwieriger als gedacht. Können wir Menschen nur das aufnehmen, was uns ins Konzept passt? Oder sind wir offen für eine Botschaft, die anders ist?

Von: Andreas Egli

6. August

Ich will dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben.
2. Mose 15,1

Noch einmal geht es um den Auszug aus Ägypten. Nun wird von den Israeliten erzählt, die den beschwerlichen Weg in die Freiheit unter die Füsse nehmen. Sie sollen keine Sklavenarbeit mehr leisten, sondern nur noch einem dienen – ihrem Gott. Ihnen hinterhergeschickt wird eine hochgerüstete Armee, die sie stoppen und zurückholen soll. Schnelle Pferdegespanne ziehen die ägyptischen Kriegswagen, auf denen schwer bewaffnete Kämpfer stehen. Zur Entscheidung kommt es, als die Israeliten am Rand einer Wasserfläche nicht mehr weiterkommen. Auf unerklärliche Art weicht das Wasser zurück, sodass man es zu Fuss durchqueren kann. Die schweren Kriegsgeräte dagegen bleiben im Meer stecken. An dieser Stelle ist ein Psalm in die Erzählung eingefügt, der für Gottes Hilfe dankt. Und gleich zweimal ertönt ein kurzes Siegeslied (Verse 1 und 21). Aber nicht ein Sieg in der Schlacht, sondern ein unerwartetes Naturereignis brachte die Rettung. Das Lied besingt nicht die Stärke der eigenen Kämpfer, sondern ein wunderbares Eingreifen von Gott. «Damals sangen Mose und die Israeliten dieses Lied: Singen will ich dem HERRN, denn hoch hat er sich erhoben. Pferde und Kriegswagenfahrer hat er ins Meer geworfen.» Das Lied drückt den Glauben aus: Gott zeigt seine Hoheit dadurch, dass er auf der Seite der Unterdrückten steht.

Von: Andreas Egli

5. August

Der HERR sprach zu Mose: Du sollst alles reden, was ich dir gebieten werde. 2. Mose 7,1.2

In der Erzählung vom Auszug aus Ägypten sind die Gegenspieler klar. Einerseits ist es der Pharao, der König des Grossreichs Ägypten. Er steht an der Spitze eines mächtigen Staatsapparats und wird in seinem Land wie ein Gott verehrt. Andererseits ist es der Gott eines kleinen Wüstenvolks, das in Ägypten Sklavenarbeit leistete und nun den Weg in die Freiheit sucht. Es scheint, dass die Überlegenheit klar beim Pharao liegt. Aber der Text kehrt die Verhältnisse um. An der Spitze steht der biblische Gott, der sich mit seinem Namen bekannt gemacht hat. Ihm untergeordnet ist Mose, der das göttliche Wort empfängt und weitergibt. Gegenüber dem Pharao bekommt er fast die Stellung eines göttlichen Wesens. Wieder eine Stufe tiefer steht Moses Bruder Aaron. Wie ein Prophet überbringt er die Botschaft, die er empfangen hat. Erst an unterster Stelle findet man den Pharao, für den die Nachricht bestimmt ist. Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung von Ägypten trägt er nicht einmal einen Namen. «Der HERR sagte zu Mose: Sieh, ich setze dich als göttliches Wesen für den Pharao ein. Und Aaron, dein Bruder, wird dein Prophet sein. Du wirst alles reden, was ich dir auftragen werde. Und Aaron, dein Bruder, wird es zum Pharao reden. Dann lässt er die Israeliten aus seinem Land ziehen.»

Von: Andreas Egli

6. Juni

Um Jerusalem her sind Berge, und der HERR ist um
sein Volk her von nun an bis in Ewigkeit.
Psalm 125,2

Wenn israelitische Pilger in biblischer Zeit für ein Fest nach
Jerusalem reisten, stiegen sie hinauf ins Bergland von Judäa.
Die Stadt lag nicht ganz am höchsten Punkt, sondern in einer
leichten Senke. Sie war umgeben von Hügeln, die noch etwas
höher waren. Ganz in der Nähe befand sich der Ölberg mit
seinen drei Kuppen. Weiter entfernt waren andere, noch
höhere Erhebungen. Um sie alle zu sehen, musste man sich
beim Tempel einmal um die eigene Achse drehen. Mit dem
Stichwort «rings um» – gemäss hebräischer Wurzel – macht
der Psalmvers einen bildhaften Vergleich. Wie Jerusalem von
Bergen umgeben ist, so erhoffte sich die Stadt Schutz durch
Gottes Gegenwart und seine lebensfreundliche Macht.
«Jerusalem: Berge sind rings um es. Und der HERR ist rings
um sein Volk.» Dieses Bekenntnis drückte eine Hoffnung
aus, die aber keine Garantie war. Denn es war nicht vergessen,
dass man den gleichen Ausdruck brauchen musste, um
den Aufmarsch feindlicher Armeen zu beschreiben. Sie hatten
sich «rings um» Jerusalem aufgestellt, um die Stadt zu
belagern und schliesslich zu erobern. Neben das Vertrauen
auf Gott stellt der Psalm eine Warnung: Die Menschen sollen
sich nicht an ungerechten Machenschaften beteiligen. Und
am Schluss steht ein grosser Wunsch, der bis heute aktuell
ist: «Friede über Israel.»

Von: Andreas Egli

5. Juni

Gott spricht zum Frevler: Was redest du von
meinen Geboten und nimmst meinen Bund in
deinen Mund, da du doch Zucht hassest und
wirfst meine Worte hinter dich?
Psalm 50,16–17

Wie von einem Propheten hört man im Psalm ein Gotteswort
in direkter Rede. Was ist ein rechter Gottesdienst? Was
ist ein guter Umgang mit den göttlichen Geboten? Zwar
sollen die Israeliten viel von ihnen reden (5. Mose 6,7). Aber
ebenso wichtig ist die Frage, ob sie auf den Alltag eine Auswirkung
haben. Der eine kann ein Wort im Mund führen –
und es dann doch hinter sich werfen, sodass es wirkungslos
liegen bleibt. Dann tritt er zwar wie ein frommer Mensch
auf, ist aber eigentlich das genaue Gegenteil: ein Frevler, ein
Bösewicht. So sagt es der Zwischentitel, der vermutlich später
eingefügt wurde. Der andere geht so mit einem Bibelwort
um, dass er bestrebt ist, von ihm etwas zu lernen. Das ist
das positive Anliegen des Losungsverses. Der altertümliche
Ausdruck «Zucht» ist heute schwer verständlich. Zugänglicher
ist der Begriff, der in der griechischen Bibelübersetzung
gebraucht wird: paideia. Es geht um Erziehung, Bildung,
Unterweisung im Feld der Ethik. Im Leben soll ein Lernprozess
stattfinden, der das Verhalten prägt. Die folgenden
Psalmverse beziehen sich auf die Gebote im zweiten Teil der
Zehn Gebote. Sie halten Werte fest, die für das Verhältnis zu
den Mitmenschen grundlegend sind.

Von: Andreas Egli

6. April

Die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Jesaja 58,7

Der letzte Teil des Jesajabuchs geht von der befreienden Erfahrung aus, dass Juden aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem zurückkehren konnten. Hier bauten sie nicht nur die Häuser der Stadt wieder auf, sondern richteten auch den Gottesdienst und das Leben nach den Geboten neu ein. Regeln, wie und an welchen Tagen man fasten sollte, waren ein grosses Thema. Das Kapitel 58 gibt dazu einen Diskussionsbeitrag: Könnte man das Fasten auch ganz anders verstehen? Im Vordergrund steht nicht der Verzicht auf Nahrung. Sondern es geht vor allem darum, eine neue Zuwendung zu den Mitmenschen einzuüben, die von Mitgefühl und Barmherzigkeit geprägt ist. Wie begegnet man denjenigen Menschen, die sich wegen ihrer Bedürftigkeit in einer schwächeren Position befinden und auf die Mitmenschlichkeit von anderen angewiesen sind? Gerade für sie müsste es möglich sein, in ihrer Notlage eine befreiende Erfahrung zu machen. «Bedeutet das Fasten nicht: für den, der Hunger hat, dein Brot brechen. Arme, die heimatlos sind, lässt du ins Haus kommen. Wenn du einen siehst, der keine Kleider hat, deckst du ihn zu.» Eine sehr ähnliche Aufzählung findet sich im Neuen Testament (Matthäus 25,35 f.). Das Losungswort zeigt: Die «Werke der Barmherzigkeit» sind keine christliche Erfindung, sondern haben ihre ursprüngliche Heimat im Judentum.

Von: Andreas Egli

5. April

Der HERR macht arm und macht reich;
er erniedrigt und erhöht.
1. Samuel 2,7

Ist es ein Naturgesetz? Die Verhältnisse bleiben, wie sie sind. Die Armen sind weiterhin arm oder werden noch ärmer, aber die Reichen können ihren Besitz vermehren. Nein, protestiert der Text, es könnte auch ganz anders herauskommen. Es könnte sein, dass sich die Rangliste plötzlich umkehrt, und dabei hat Gott seine Hand im Spiel. Ein Gebet, das nicht in die Sammlung der Psalmen aufgenommen worden ist, hat dies zum Thema (Verse 4–10). Bis zum Losungsvers hin könnte man denken, dass die Veränderung so oder so ausgehen könnte. «Der HERR lässt arm werden und er lässt reich werden. Er lässt niedrig werden und er erhöht.» Aber wenn man im Psalm weiterliest, wird es klar, dass er eine eindeutige Tendenz hat. Gott steht auf der Seite des Armen und hilft ihm, sich aufzurichten. Gott gibt dem, der wenig Macht hat, einen Ehrenplatz (Vers 8). Und am Schluss heisst es: Dem König des kleinen Landes Israel wird Stärke gegeben (Vers 10). Eindeutig ist der positive Umschwung auch in der Erzählung, in welche das Gebet eingefügt ist. Ein Paar musste lange auf die Erfüllung seines Kinderwunsches warten. Als kinderlose Frau war Hanna in der damaligen Zeit sehr benachteiligt. Umso grösser war ihre Dankbarkeit, als sie ein Kind zur Welt brachte. Ihr Sohn Samuel wurde einer der ersten Propheten.

Von: Andreas Egli