Bist du neidisch, weil ich so grosszügig bin? So werden
die Letzten die Ersten sein.
Matthäus 20,15–16

Der heutige Lehrtext steht am Ende der Parabel Jesu von
den Arbeitern im Weinberg. Es lohnt sich, die Story wieder
einmal – möglichst unvoreingenommen – zu lesen. Dann,
scheint mir, zeigt sich: Die Güte des Gutsherrn hält sich in
engen Grenzen. Statt seine eigene Grosszügigkeit hervorzuheben
und den enttäuschten Taglöhnern vorzuwerfen,
dass sie neidisch seien, könnte er ihnen wenigstens erklären,
dass er im Moment nicht mehr übrighabe und in erster
Linie gewährleisten wolle, dass alle irgendwie durchkommen.
Stattdessen stösst er die armen Arbeiter vor den Kopf – und
mit ihnen irgendwie auch uns.
An diesem Punkt, wo man ratlos stehenbleibt, hilft die
grossartige Auslegung der Parabel durch den Schweizer
Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945) weiter: In unserem
menschlichen Bewusstsein, sagt Ragaz sinngemäss, ist die
Vorstellung tief eingeprägt, dass ich einen Anspruch auf den
von mir erworbenen Besitz habe. Diese Vorstellung mag in
dieser Welt ihr relatives Recht haben.
Die Parabel aber zeigt, dass vor Gott eine andere Wirklichkeit
gilt: Der einzige Gutsbesitzer im Himmel und auf Erden
ist Gott. Wir Menschenkinder sind allesamt Taglöhner, die
ihren täglichen Denar empfangen. Wir alle empfangen –
unverfügbar, frei von Verdienst – unser Leben sola gratia,
allein aus Gnade, Atemzug für Atemzug als Geschenk.

Von: Andreas Fischer