Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. Psalm 71,9
In meinem inzwischen recht hohen Alter kann mir ein solches Stossgebet leicht über die Lippen kommen. Ich bete es manchmal im Stillen, aber nicht wie im Psalm 71, weil ich mich von Mitmenschen oder von Krankheiten verfolgt fühle, sondern eher umgekehrt, weil es mir gut geht, ich das Leben im Alter als sehr reich und schön empfinde und sehr dankbar dafür bin. Aber mir ist natürlich bewusst, dass sich das schnell ändern kann, wer weiss, welche Krankheiten und welche individuellen oder gesellschaftlichen und politischen Katastrophen auf einen warten. Aber sie liegen bei allem Leid, das auf der Welt herrscht, für mich noch in der Zukunft. Gerade deshalb spricht dieser Psalmvers zu mir: Verwirf mich nicht in meinem Alter und verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. Die Schwäche bezieht sich ja nicht nur auf den Körper – wir können auch schwach werden im Umgang mit unseren Mitmenschen. Im Vers 16 heisst es: Ich gehe einher in der Kraft Gottes des Herrn; ich preise deine Gerechtigkeit allein. Darin liegt all die Zuversicht und Hoffnung, die uns trägt. Bonhoeffer sagt es so überzeugend in seinem Glaubensbekenntnis:
«Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.»
Von: Elisabeth Raiser