Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte.
Psalm 130,4

«Pardonner, c’est son métier», hat der Spötter Voltaire über Gott gesagt. Göttliche Vergebung ist also eine Selbstverständlichkeit? Und gilt sie wirklich für alle? Uns fallen wohl einige Namen ein, bei denen uns diese Vorstellung etwas Mühe bereitet. Eine «Allversöhnung» kann unserem Gerechtigkeitsempfinden im Extremfall durchaus zuwiderlaufen. Aber andererseits widerspricht auch die Theorie eines «Jüngsten Gerichts» der Vorstellung vom barmherzigen Gott und von der Erlösung durch das Werk Christi. Wir erinnern uns an den Streit um die Formulierung im römischen Kanongebet: Hat Jesus sein Blut gegeben «für alle» oder «für viele» (was hier wohl ein Problem der Übersetzung aus dem Griechischen ist)?
Versuchen wir darum, den Satz mit anderer Betonung zu lesen, mit Akzent auf «bei dir». Vergebung ist allein Gottes Sache, das können wir ihm allein überlassen. Das schwierige Wort «fürchten» kann dann etwa heissen «respektieren, anerkennen». In diesem Kontext bedeutet es, Gott die
Vergebung anheimzustellen und nicht mit unserer menschlichen Logik danach zu fragen. So, wie es umgekehrt ja auch heisst: «Mein ist die Rache, spricht Gott.»
Es gibt offensichtlich Fragen, die wir sinnvollerweise gar nicht erst stellen, wenn wir nicht in unlösbare Dilemmata laufen wollen. «Gottesfurcht ist der Weisheit Anfang», und Weisheit besteht manchmal darin, nicht alles wissen zu können.

Von: Andreas Marti