Lehre mich rechtes Urteil und Erkenntnis,
denn ich vertraue deinen Geboten.
Psalm 119,66

Man denkt als Christ gern an Jesus, der am Sabbat Ähren ausriss, Kranke heilte, mit Zöllnern zechte und insgesamt oft die Gebote übertrat. Man denkt, besonders als Protestant, an Paulus’ und Luthers «Rechtfertigung allein aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes». Man ist stolz auf die Freiheit des Christenmenschen, der nicht auf Gebote, sondern auf Jesus Christus vertraut, und fühlt sich überlegen.
Doch vielleicht ist dies alles Missverständnis und Mangel an «rechtem Urteil und Erkenntnis».
«Rechtes Urteil» im ursprünglichen Sinn des entsprechenden Worts im hebräischen Urtext bedeutet «Schmecken», wie man Honigkuchen (Exodus 16,31), Wein (Jeremia 48,11) und Gott selbst (Psalm 34,9) schmeckt. Das «Lernen» der Tora ist also ein ganzheitlicher Prozess, der «Schmecken» und «Erkenntnis» (auf Hebräisch klingt beides wortspielartig ähnlich: «Taam waDaat»), Sinnlichkeit und Verstand umfängt. Die Beziehung zur Tora und ihren Geboten insgesamt ist eben nichts Äusserliches, sondern «Konkretion des Vertrauens auf Gott» (Erich Zenger), welches den Alltag,
das ganze Leben durchdringt.
Eine solche Anleitung zu spirituellem Lernen wünschte ich mir manchmal im reformierten Jekami. Und für den heutigen Tag wünsche ich mir: Gottesgeschmack, Gotteserkenntnis.
Von: Andreas Fischer