Monat: Mai 2023

31. Mai

Du hast mir meine Klage verwandelt in einen Reigen,
du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und mich
mit Freude gegürtet.
Psalm 30,12


Genau dafür liebe ich die Psalmen: Weil sie einem manchmal so
überbordend euphorisch Worte einflössen können, als wären
sie ein Elixier, um uns glücklich zu machen. Kein Wunder, ist
Psalm 30 Bestandteil des täglichen jüdischen Morgengebets,
des Schacharit. Das tägliche Aufwachen zu verbinden mit der
Hoffnung auf Wandel, Umkehr oder einfach einen Neuanfang,
kann stärker wirken als der erste Espresso oder Fruchtsaft.
Der jüdische Gelehrte Maimonides, der im 17. Jahrhundert
den Vorschlag machte, Psalm 30 in das Morgengebet aufzunehmen,
hatte wohl die suggerierende Kraft dieser Sätze erkannt.
Er empfahl, sie «langsam und mit leidenschaftlichem Optimismus
» zu singen – als Vorbereitung auf alles, was noch kommt.
Wieso also den Tag mal nicht nur mit Koffein oder Vitaminen
beginnen, sondern einem Boost an Optimismus und Begeisterung,
welche Psalm 30 oder andere berührende Verse in uns
wecken?
Ich denke an eines meiner Lieblingslieder: «Morning has broken
» von Cat Stevens. Die erste Strophe dieses Songs hat eine
vergleichbar erweckende Kraft wie Davids Psalm:
Morning has broken like the first morning
Blackbird has spoken like the first bird
Praise for the singing, praise for the morning
Praise for them springing fresh from the world

Der Morgen ist angebrochen, wie der erste Morgen
Die Amsel hat gesprochen, wie der erste Vogel
Gelobt sei ihr Gesang, gelobt sei der Morgen
Gelobt seien sie, wie sie frisch und munter springen.

Von: Esther Hürlimann

30. Mai

Ist denn die Hand des HERRN zu kurz? 4. Mose 11,23


Diese unechte Frage stellt Gott dem Mose, weil der sich beim
besten Willen nicht vorstellen kann, wie Gott es bewerkstelligen
will, ein ganzes Volk, das nach Fleisch schreit, zu
versorgen. Aber die Wachteln rauschen wie versprochen an;
so viele, dass es allen bald zum Hals heraushängt. Auch das
hatte Gott vorhergesehen. Eine seltsame Beziehung schildern
uns die Mosebücher zwischen Gott und den Geretteten.
Wie soll es auch anders sein? Erst kurz vor ihrer Flucht
hatte Gott sich dem Mose vorgestellt und gesagt: «Ich bin
der Ich-bin-da.» Jetzt müssen sie sich in einer Zeit grosser
Aufregungen kennenlernen. Das ist ein beliebtes Motiv in
vielen Filmen: Zwei Leute, die sich vorher nicht kannten, sie
Grundschullehrerin und er Buchhalter, müssen zum Beispiel
ein Flugzeug mit dreihundert Personen an Bord landen, weil
die Piloten infolge einer Fischvergiftung ausgefallen sind. Der
Film lebt von der aus begreiflichen Gründen angespannten
Beziehung der beiden. Am Schluss kriegen sie sich immer
und so ist es auch in der Wüste. Sie bleiben sich treu, Gott
und das Volk, auch wenn im Lauf der Geschichte die Beziehung
nie ganz einfach sein wird. Irgendwann, als gerade
die Römer Palästina besetzt halten, wird der Arm Gottes
ganz lang und er selbst wird Mensch und reicht uns in Jesus
Christus die Hand. Dass viele sie ausschlagen, zeigt, dass die
Beziehung damit nicht einfacher geworden ist.

Von: Heiner Schubert

29. Mai

Mein ist das Silber, und mein ist das Gold, spricht der
HERR Zebaoth.
Haggai 2,8


«Und an dieser Stätte werde ich Frieden schenken!» So
schliesst der Prophet Haggai seine Rede ab, die er im Namen
Gottes zum Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem hält.
In erster Linie ist es an die für den Bau Verantwortlichen
gerichtet. Gott wird das neue Haus mit seinem Geist füllen,
mit allen Kostbarkeiten, mit Silber und Gold. Womit
auch immer der neue Tempel geschmückt und ausgestaltet
wird, alles wird dafür stehen, dass Gott von diesem Zentrum
aus sein Friedenswerk verbreiten wird. Anders gesagt:
Es wird Gott sein, der mit seinem Geist den Frieden bringt,
aber er braucht Menschen dazu, die die konkrete Arbeit zu
übernehmen bereit sind. Er ermutigt sie, mit Engagement
zu bauen und so ihren Teil beizutragen. Frieden wird nicht
vom Himmel fallen, sondern muss mit der Hände Arbeit in
dieser Welt errichtet werden. Dazu braucht es alle Kräfte
und auch alle Ressourcen (dafür stehen hier «Silber und
Gold»). Indem Haggai hier direkt Serubbabel und Jehoschua
anspricht, spricht er alle an – und über die Zeiten hinweg
auch uns hier und heute: Frieden kann entstehen, wenn alle
an ihrem Ort ihre Kräfte dafür einsetzen. Gott beschützt
diese Arbeit und verheisst, dass er sie zum Ziel führt. Wir
wissen, wie mühsam und kräftezehrend das stets ist. Aber
die Verheissung ist gesetzt und gilt: Gott wird Frieden
ermöglichen und schaffen! Durch seinen Geist.

Von: Hans Strub

28. Mai

Ich selbst will, spricht der HERR, eine feurige Mauer
rings um Jerusalem her sein.
Sacharja 2,9


Eine feurige Mauer, über Tag eine Wolkensäule, des Nachts
eine Feuersäule, ein brennender Dornbusch. Sie sind so
gewaltig, naturgewaltig, die Erscheinungen Gottes, von
denen die Texte des Alten Testaments schreiben. Und bei
aller Bedrohlichkeit, die diese Bilder auch enthalten, muss
ich doch sagen, dass ich diese Geschichten liebe, denn sie
erzählen Gott so erlebbar. Erlebbar im Hier und Jetzt. In
aller Gewaltigkeit: Wärme, Schutz und Orientierung gebend.
In Sacharjas dritter Vision von dem Mann mit der Messschnur
ist es ein Versprechen, ein Versprechen Gottes: Ich
will eine feurige Mauer rings um Jerusalem sein.
Ich will dieses Versprechen heute nicht auf dem Hintergrund
der aktuellen politischen Lage in Jerusalem hören, nicht als
Argument in einem nicht enden wollenden Konflikt, nicht
als Grenzziehung, sondern als eine Geschichte, die von der
Sehnsucht nach Gottes Schutz und Beistand spricht. Ein Prophetenwort,
das sich das naturgewaltige Eingreifen Gottes
herbeiwünscht und es seinen Leserinnen und Lesern bereits
vor Augen stellt: Ich hob meine Augen auf und sah …
Eine feurige Mauer, über Tag eine Wolkensäule, des Nachts
eine Feuersäule, ein brennender Dornbusch – manchmal
habe ich auch naturgewaltige Sehnsucht nach Gott.

Von: Sigrun Welke-Holtmann

27. Mai

Daran erkennen wir, dass er in uns bleibt: an dem Geist,
den er uns gegeben hat.
1. Johannes 3,24


Was macht den Unterschied aus? Woran erkennt man Drinnen
und Draussen, Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum,
Kinder Gottes und Kinder des Teufels?
Er ringt mit sich und seinen Leserinnen und Lesern und
sieht es doch ganz klar: Ihr Lieben, seht das doch ein, das ist
doch gar nicht schwer!
Ich finde es heute überhaupt nicht mehr so klar. Wie lässt
sich dieser Unterschied fassen? Und sollten wir in einer globalen
Welt nicht eher auf die Gemeinsamkeiten als auf die
Unterschiede schauen?
Was ist das für ein Geist und wie könnte ich ihn heute
beschreiben? Mit welchen Worten, die wir auch noch aktiv
verwenden und die uns ganz konkret etwas sagen? Und wie
haben wir – Sie und ich – ihn bekommen? Mit der Taufe –
o.k., aber wie wird er gespürte Erfahrung und damit Wirklichkeit
für uns?
Können wir den Geist an der entwickelten Haltung erkennen?
Wie lassen sich brüderliche – geschwisterliche – Liebe
und Glaube an den Namen Jesu Christi leben? Sind damit
Toleranz und Akzeptanz gemeint? Empathie oder mehr?
So viele Fragen ergeben sich aus diesem einen Vers, die,
wenn sie nicht dogmatisch beantwortet werden sollen, jeder
und jede nur für sich und aus der eigenen Geschichte heraus
beantworten kann.

Von: Sigrun Welke-Holtmann

26. Mai

Der HERR, unser Gott, ist gerecht in allen seinen
Werken, die er tut.
Daniel 9,14


Daniel ist nicht nur ein Prophet in schwierigen Zeiten, sondern
auch ein Mann des Gebets. Er fleht zu Gott mit hoher
Emotionalität – für sein Volk und für die Stadt Jerusalem. Er
betet unter Fasten, in Sack und Asche und findet Gott nicht
nur gerecht, sondern auch gross und schrecklich. Scham und
Versündigung seines Volkes beschäftigen ihn sehr.
Diese Themen hören wir heute gar nicht gerne. Es ist unmodern
geworden, von Schuld zu sprechen. Scham ist in unserem
Sprachgebrauch fast ausgestorben.
Und dennoch, auch wir versuchen die Zeit und ihre Schrecken
zu deuten: Wir fragen nach den Ursachen von Krieg
und Klimakrise. Aber anders als Daniel erwarten wir, dass
Gott über unser Unglück gütig wacht und seine Gerechtigkeit
gnädiger ist, als es menschliche Massstäbe befürchten
lassen.
Von Daniel möchte ich das emotionale Beten (wieder) lernen.
«Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine
Augen auf und sieh an unsere Trümmer …»
Mir fällt das tägliche Abendgebet meiner Grossmutter ein.
Es war so voller Leidenschaft und Intensität – und oft unter
Tränen. Eine tiefe Übung des Vertrauens und der Hingabe!

Von: Barbara Heyse-Schaefer

25. Mai

Gross ist, wie jedermann bekennen muss,
das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch,
gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln,
gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt,
aufgenommen in die Herrlichkeit.
1. Timotheus 3,16

Glauben ist und bleibt ein Geheimnis.
Wir alle erleben es wohl hin und wieder,
dass wir staunen und uns etwas tief berührt.
Wie eine Offenbarung ist das dann –
vielleicht nur für einen Augenblick,
mittendrin in unserem Alltag.
Rechtfertigungen, Erscheinungen, Predigten –
alles Ausdruck von religiösem Leben.
Es braucht die Bereitschaft, uns einzulassen
auf die Bilderwelt des Glaubens.
Fast wie bei Mary Poppins, wo die Kinder
ins Bild des Strassenmalers hüpfen,
sich wiederfinden in einer anderen Welt.
Wenn wir es wagen, hinein zu hüpfen
in die Bilderwelt des Glaubens,
öffnet sich auch uns eine neue Welt,
in der wir – vielleicht – etwas erahnen
von Engeln und von Herrlichkeit.
Wir sind im Bild – wortwörtlich –
und reden auch entsprechend, denn
über Glauben lässt sich nur in Bildern reden.

Von: Heidi Berner

24. Mai

Wenn mein Geist in Ängsten ist,
so kennst du doch meinen Pfad.
Psalm 142,4


Seit dem Corona-Sommer 2020 bin ich unterwegs, tageweise,
auf dem Jakobsweg durch die Schweiz.
Es tut mir gut, das Gehen, hilft mir, nachzudenken
über all das, was uns heute ängstigt – und freut.
Einige Impressionen:
Glockengeläut der Klosterkirche
begleitet mich bei der Wanderung
aus Einsiedeln heraus in Richtung Mythen.
Ich interpretiere es als nonverbalen Pilgersegen.
Kurz vor Lungern quert eine Katze meinen Weg.
Wie es sich gehört, begrüsse ich sie ganz nett.
Sie ist gerührt und streicht mir um die Beine.
Als ich sie aus Distanz fotografieren will,
kommt sie wieder auf mich zu, will Streicheleinheiten.
Einmal springt sie mir sogar auf die Achsel.
Noch eine Weile begleitet sie mich auf dem Weg.
Die Via Jacobi führt über den sanften Strättliggrat.
Rechter Hand der Thunersee, links die Stockhornkette.
Vor und neben mir gaukelnde Schmetterlinge.
In einer Kapelle der Kathedrale von Freiburg
sind drei Reliquien in Gefässen in Handform.
Skurril. Etwas Handfestes für den Glauben.
Oder den Zweifel.

Von: Heidi Berner

23. Mai

So habt nun acht, dass ihr tut, wie euch der HERR,
euer Gott, geboten hat, und weicht nicht, weder zur
Rechten noch zur Linken.
5. Mose 5,32


Wer die Gebote Gottes gehört hat, soll sie auch befolgen,
keine Ausflüchte machen und sich nicht vom Weg ab-
bringen lassen und den Kurs behalten. Im Dialekt steht
«folgen» für «gehorchen». Ich habe es noch im Ohr: «Tüend
jetzt folge!» Immer dann, wenn wir Kinder bockten und uns
querstellten, kam diese elterliche Losung. Das war ziemlich
oft der Fall. Und es hat meistens wenig gefruchtet. Mit
Drohungen oder Belohnungen waren die Chancen, dass wir
«folgten», höher. Man kann die Pädagogik des Gesetzes in
diesem Licht sehen – und der Verdacht kommt auf, dass
auch die göttliche Erziehung an Grenzen stösst. Warum wäre
sonst der Nachdruck nötig? Könnte es sein, dass wir immer
versuchen werden, nach rechts oder links auszuweichen?
Dass der absolute Gesetzesgehorsam wider unsere Natur
ist? Der Apostel Paulus kommt in seinen Überlegungen zur
Wirkung des Gesetzes zu diesem Schluss. Nicht der Gehorsam,
sondern das Vertrauen in Gottes Güte und Erbarmen
lässt uns «folgen». In den Evangelien zeigt sich der Glaube
als Nachfolge Jesu. «Folgen» ist mehr als «Gehorsam», und
das hat auch mit Geradlinigkeit zu tun. ER ist das Vorbild,
dem wir vertrauensvoll folgen, und keine Drohung, der wir
ängstlich gehorchen.

Von: Ralph Kunz

22. Mai

Ich pries die Freude, dass der Mensch nichts Besseres
hat unter der Sonne, als zu essen und zu trinken und
fröhlich zu sein. Das bleibt ihm bei seinem Mühen
sein Leben lang, das Gott ihm gibt unter der Sonne.
Prediger 8,15


Ist der Prediger ein Geniesser? Für eine Andacht in der Fastenwoche
würde ich sein Lob auf das Essen jedenfalls nicht
auswählen. Mit dem Spruch könnte man werben für eine
Gault-Millau-Tour! Mich erinnert er an einen anderen Spruch
des römischen Dichters Horaz, der mahnt, man soll die
kurze Lebenszeit nutzen. Horaz gibt den Rat, den Tag zu
pflücken, bevor es Abend wird. Wer sich die Mühe macht,
den Sinnzusammenhang der biblischen Carpe-Diem-Einsicht
zu erforschen, kommt allerdings auf eine andere Spur. Der
Prediger versucht sich nämlich einen Reim darauf zu machen,
warum es Gesetzesbrecher gibt, die in Saus und Braus leben,
und Gerechte, als ob sie das Gesetz gebrochen hätten. Das
schmeckt nach einer bitteren Pille. «Ein Sünder kann hundertmal
Böses tun und dennoch lang leben.» (Vers 12) Das
ist aber nur die eine Seite der Medaille. Ich höre auch: Wenn
schon gelebt, dann doch richtig gelebt. Wenn in dieser flüchtigen
Welt nichts ewig Bestand hat, dann freu dich an dem,
was Gott dir schenkt. Genussfähigkeit ist eine Gabe Gottes!
Ein anderer Meister der Wahrheit meinte ein paar Jahre
später:
«Sorget euch nicht um morgen!» (Matthäus 6,34)
Ihm glaube ich. Er hat auch die bittere Pille geschluckt.

Von: Ralph Kunz