Monat: September 2022

30. September

Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Psalm 90,4

Ich stehe unter dem leuchtenden Sternenhimmel. Seine Weite macht mich staunen. Ich denke an die Lichtjahre entfernten Sterne, die noch immer leuchten, obwohl sie gar nicht mehr sind. Der Hauch von Ewigkeit lässt erschaudern.

«Am Morgen blüht es, doch es vergeht, am Abend welkt es und verdorrt», schreibt der Psalmist über das menschliche Leben. Mit allen Hoffnungen und Plänen, Anstrengungen und Höhenflügen fliege ich der Bedeutungslosigkeit entgegen. Ganze Kapitel der Menschheitsgeschichte, gigantische Generationenprojekte verkümmern vor Gott zu einer einzigen Nachtwache. Wie so oft in den Psalmen arbeitet der Dichter auf ein Kippmoment hin. Vergänglichkeit bedeutet nicht Bedeutungslosigkeit und Gottverlassenheit. Vielmehr ist das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit eine tägliche Lektion in Gottes Lebensschule: «Lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.»

Im Nachthimmel über mir leuchtet eine Sternschnuppe auf. Ich stelle mir vor, wie liebevolle Begegnungen, Glücksmomente in meinem Leben aufleuchten am Firmament der Ewigkeit. Und ich denke an Menschen, deren Stern schon längst verglüht ist, aber deren Liebe und Weisheit mir zuweilen noch immer den Weg leuchten.

Von Felix Reich

29. September

Jesus kniete nieder, betete und sprach: Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Es erschien ihm aber ein
Engel vom Himmel und stärkte ihn.
Lukas 22,41–43

Jesus – einzigartig in seinem Leben, einzigartig in seinem Sterben. So habe ich es gelernt. Aber ist es auch wirklich so? Irgendeinmal stellte ich fest: Offenbar war das Kreuzigen im Römischen Reich die «normale» Hinrichtungsart für Aufständische. Und sie alle, auch die zwei Verbrecher auf Golgatha, starben nicht weniger qualvoll als der sogenannte Gottessohn aus Nazaret.
«Nimm diesen Kelch von mir!» Wie viele andere haben in Gefängniszellen und Folterkammern um Errettung gefleht und mit ihrer Angst gerungen. Nicht allein mit der Angst vor jenen, denen sie ausgeliefert waren, sondern auch mit der Furcht, dass sie sich und andere verraten könnten, ihre eigene Integrität, ihre Werte – Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit… War Jesus etwa nicht der erhabene Schmerzensmann? Vielmehr einer wie sie, ein Opfer, schutzlos, gottverlassen der Macht der Täter ausgeliefert.
Immer noch, bis auf den heutigen Tag, wiederholt sich der gewaltsame Ablauf des damaligen Passionsgeschehens. Aber bis auf den heutigen Tag lässt uns unser Glaube hoffen, dass Gott bei seinen Söhnen und Töchtern ist, an den Orten des Grauens, der Schwäche und der Klage. Auch mit denen, die das Betteln um Verschonung hinter sich gelassen haben.

Von Käthi Koenig

28. September

Die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint schon. 1. Johannes 2,8

Finsternis und Licht
Hass und Liebe
noch nicht und doch schon
«Meine Lieben» – eindringlich wirbt der Schreiber des 1. Johannesbriefes um seine Leserinnen und Leser: Nichts Neues sage ich – fordere ich von und für euch, sondern etwas Bekanntes, ja, etwas, das von Anbeginn schon gegolten hat und immer noch gilt. Ich will euch die Augen öffnen, vom Blendwerk der Finsternis befreien.

Finsternis und Licht
Hass und Liebe
noch nicht und doch schon
Er kann nicht aufhören, davon zu sprechen, zu schreiben. Es ist zu wichtig, um sich selbst zu betrügen und hinters Licht zu führen oder führen zu lassen: Gottes Kinder seid ihr, sind wir – schon. Es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Seht ihr es nicht?
Finsternis und Licht
Hass und Liebe
noch nicht und doch schon immer
von Anfang an ist Gott das Licht
und in ihm keine Finsternis.

Von Sigrung Welke-Holtmann

27. September

Die vom Volk, die ihren Gott kennen, werden stark sein und danach handeln. Daniel 11,32

Kennen Sie Gott?
Wenn ja, wo und wann haben Sie sie ihn kennengelernt? Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung? Von welcher Seite hat er sich im ersten Moment gezeigt? Und, haben Sie sie gleich als solche erkannt? Als Gott?
Wenn nein, wie konnten Sie ihm die ganze Zeit aus dem Weg gehen? Hatten Sie eine Strategie, ihr nicht zu begegnen? Was heisst es eigentlich, Gott zu kennen? Ist es vergleichbar damit, einen anderen Menschen zu kennen? Sich zu begegnen, vielleicht auf der Strasse oder im Café. Miteinander ins Gespräch zu kommen: Wer bist du und was ist deine Geschichte?
Wie viel Informationen brauche ich über einen anderen Menschen, um sagen zu können, ich kenne Sie? Und wie viel müsste ich über Gott wissen, oder wie viel würde ich gerne wissen, um zu sagen: Ich kenne dich doch!
Kenne ich Gott, wenn ich die Geschichten gelesen habe, die über ihn geschrieben wurden? Kenne ich Gott dann? Kenne ich Gott, wenn ich die Gebote befolge, die ihr zugeschrieben werden?
So viele Fragen, die ich kaum beantworten kann. Aber eines macht mir die Losung aus dem Buch des Propheten Daniel heute klar: Gott zu kennen, verändert. Mich und dich.

Von Sigrun Welke-Holtmann

26. September

Bekehre du mich, so will ich mich bekehren; denn du, HERR, bist mein Gott! Jeremia 31,18

Manchmal scheint es unmöglich, das Leben alleine zu meistern. Ich bin müde und erschöpft. Keine Energie mehr! Meine Füsse sind schleppend, das Herz ist schwer und der Kopf dumpf.

Ein Anstoss von aussen; eine Person, die mir die Hand reicht
– das könnte helfen!

Jeremia hat sich abgekämpft für seinen Gott. Er hat alles gegeben. Nun ist er ausgebrannt. Jetzt bleibt nur sein verzweifelter Notruf: «Hilf mir, Gott, wende meinen Blick. Ich kann es nicht allein! Ja, selbst zum Drehen des Kopfes fehlt mir die Kraft.»

Gott wartet auf diesen Seufzer. Er ist nie weiter als diesen Seufzer von uns entfernt. Und er schickt «seinen Engel», der uns den Kopf dreht, den Wendepunkt herbeiführt, der uns den Weg zurück zum Leben und zur Lebendigkeit zeigt.

In meiner dunkelsten Stunde war da plötzlich eine Stimme in meinem Herzen: «Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen.» Das war mein Wendepunkt! Da wusste ich, ich bin nicht allein. Gott wird alles zum Guten wenden, aber ich muss mich auch bewegen, vom falschen Leben und seinen Gewohnheiten umkehren.

Von Barabara Heyse-Schaefer

25. September

Der HERR wird deinen Fuss nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Psalm 121,3

Es wäre ja so schön und tröstlich,
wenn wir darauf vertrauen könnten,
dass wir alle behütet sind,
dass wir auf unseren Wegen
einen festen Grund haben,
nicht gleiten, nicht stürzen.

Schon haben wir uns daran gewöhnt,
dass ein mörderischer Krieg ist in Europa.
Die Anfangshoffnung, er könnte
bald zu Ende sein, weil nicht sein kann,
was nicht sein darf, hat sich aufgelöst.
Täglich lesen wir von Menschen,
die offenbar nicht behütet sind,
die stürzen, die alles verlieren.
Täglich lesen wir von brutaler Gewalt,
von Tätern, die abgleiten vom Guten,
die selber Opfer sind ihres Systems,
Befehle ausführen müssen.

«Ich soll mich nicht gewöhnen»,
schrieb Erich Fried in einem Gedicht.
Ich will mich nicht an die Gewalt gewöhnen
und trotzig glauben, dass wir alle behütet
und dass Versöhnung und Frieden möglich sind.

Von Heidi Berner

24. September

Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weisst nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloss. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weisse Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blösse nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. Offenbarung 3,17–18

Es gibt diese bequeme Haltung,
ja nichts zu verändern.
Ich habe mich schlecht und recht
eingerichtet in meinem Leben.
Ich bin auf eine Art bedürfnislos,
die ein wenig «tötelet».
Solche Selbstzufriedenheit ist fast
ein wenig wie die Resignation,
die lähmt und die mich trennt
von der Sehnsucht nach mehr.
Mehr Wahrheit, mehr Beziehungen,
mehr volles pralles Leben.
Wo aber gibt es diese Augensalbe,
die meine Blindheit kuriert und mir hilft,
meine Blösse und Armut zu sehen?
Ein Wechsel der Perspektive
könnte mir die Augen öffnen.
Weniger ich, ich, ich. Mehr du. Mehr wir.

Von Heidi Berner

23. September

Es hat dem HERRN gefallen, euch zu seinem Volk zu machen. 1. Samuel 12,22

«Es hat dem Herrn gefallen» ist ein altmodischer Spruch, bei dem mir automatisch der Widerspruch aus Kurt Martis Leichenreden in den Sinn kommt: «Es hat dem Herrn ganz und gar nicht gefallen, dass Gustav E. Lips…» Man darf die Formel gefälligst entsorgen und eine neue Wendung wagen. Etwa so: «Gott hat sich aus freien Stücken für euch entschieden.» Im grösseren Zusammenhang der biblischen Theologie hat sich für dieses göttliche Wohlgefallen der Begriff der
«Erwählung» eingebürgert. Im Johannesevangelium spricht Christus zu seinen Jüngern: «Ihr habt nicht mich erwählt; sondern ich habe euch erwählt.» (Joh 15,16) In der Losung ist es Samuel, der zum Volk spricht. Der Kontext der Rede, in der das Volk an die Erwählung erinnert wird, ist spannungsvoll. Es geht darum, dass die Israeliten einen König wollten – ganz und gar nicht zum Gefallen Gottes. Aber Gott hat nachgegeben und willigt in das Experiment ein. Samuel salbt mit priesterlicher Vollmacht Saul zum König. Was er in prophetischer Manier dazu predigt, ist happig. Wenn euch Gott diesen Gefallen tut, haltet euch gefälligst an die Gebote. Denn Gott ist euer König. Und was missfällt Gott? Absolutistische, selbstherrliche, autoritäre und aufgeblasene Machthaber. Und ein Volk, das sich ihnen unterwirft. Ich glaube, Gott findet Gefallen an der Demokratie, in der sich Bürger und Bürgerinnen aus freien Stücken für ihn entscheiden.

Von Ralph Kunz

22. September

HERR, wer ist wie du? Mächtig bist du, HERR, und deine Treue ist um dich her. Psalm 89,9

Stellt der Psalmist eine rhetorische Frage? Es ist wohl eher eine Anrufung, die den Respekt bezeugt. Die Antwort: Niemand ist wie Gott. Denn Gott wäre nicht Gott, wenn ihm ein anderes «Wer» zur Seite gestellt werden könnte. Gott ist fraglos anders als alle anderen Mächte, die man anrufen kann. Der Beter könnte also mit dem Bekenntnis fortfahren:
«Allmächtig bist du.» Er hätte dann die unvergleichliche Himmelsmacht in den Rang erhoben, die ihr zusteht. Sie ist es, die alle anderen Mächte bodigt.

Aber ist «Allmacht» ein Name Gottes? Das ist keine rhetorische Frage. Die Anrufung «Allmächtiger» finde ich fragwürdig. Nicht dass ich an der göttlichen Macht zweifeln würde. Mir sind eher die menschlichen Allmachtsfantasien nicht ganz geheuer. Im Gebetsbuch Israels taucht jedenfalls kein total anderer Gott auf, der über ungeheure Macht verfügt. Der Beter bringt dies indirekt zum Ausdruck. Er nennt die Gottheit mächtig, indem er sie anspricht. Er getraut sich, sie anzurufen, als ob sie es genösse, sein Lob und seine Verehrung zu spüren. Allgewaltige Herrscher können auf echtes Lob verzichten. Sie dulden nur totale Unterwerfung. Unser Beter, der Gott Macht zuspricht, fühlt sich zum Lob ermächtigt. Warum? Das ist definitiv eine rhetorische Frage! Weil einer, der so betet, sich voll und ganz auf Gottes Treue verlässt.

Von Ralph Kunz

21. September

Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! Jesaja 12,5

Die Blumen auf meinem Balkon sind zum Tummelplatz für Hummeln, Bienen, Libellen, Schmetterlinge und andere Insekten geworden. Ich freue mich sehr darüber, und manchmal will mir scheinen, als trügen sie Hoffnung in die Welt. Denn sie leben, und die Blumen nähren sie. Sie fliegen weg in die Weite. So soll es dem Lob und dem Dank gehen: Nicht konzentriert auf die Freude, dass Jerusalem lebt, nein, in allen Landen soll das Loblied gesungen werden, sagt unser Text.
Manchmal ist das Lob eine Momentaufnahme, ein Gefühl, das bald wieder weg ist. Denn die Sorgen, etwa über die Lage unserer Welt, sind stärker. Aber gerade diese Sorge ist aufgehoben beim Gott des Lebens, bei der Lebendigen. Wir sind nicht allein, sind geheimnisvoll gehalten und begleitet. Die Dankbarkeit dafür in die Welt zu tragen, ist nicht einfach, denn sofort denken wir an all die Menschen, die leiden, in Angst leben, auf der Flucht sind. Ihnen gilt unser Gebet, das wir in die Welt tragen. Unsere Dankbarkeit und das Lob teilen wir, tragen es hinaus in die Welt in der Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit. Es ist eine ganz besondere Herausforderung, heute am Lob festzuhalten. Ich kann es nur, wenn ich tief durchatme und mir Rechenschaft gebe über den Reichtum meines Lebens.

Von Madeleine Strub-Jaccoud