Monat: August 2022

31. August

Gott kann machen, dass alle Gnade unter euch  reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten  Werk. 2. Korinther 9,8

Reichtum ist bei Paulus kein Selbstzweck. Er befähigt zum guten Werk. Der Apostel predigt die Grosszügigkeit und scheint doch allzu gut zu wissen, was ihr im Weg steht: die tiefsitzende Angst, zu kurz zu kommen. Deshalb will er den Geiz bei der Wurzel packen und stellt der Furcht das Vertrauen auf Gottes Gnade entgegen.

Freilich lässt sich Freigiebigkeit nicht verordnen: «Jeder aber gebe, wie er es sich im Herzen vorgenommen hat, ohne Bedauern und ohne Zwang.» Es geht hier nicht um einen Wettbewerb der Wohltätigkeit, der in der Logik des Gebens und Nehmens gefangen bleibt, sondern um eine neue Selbstverständlichkeit der Güte, die keinen Gegenwert erwartet. Sie ist Gottesdienst im wahrsten Sinn des Wortes, weil sich «zum Evangelium von Christus bekennt», wer gibt.

Im Gottesdienst gehören Fürbitte, Segen und Kollekte zusammen. Und eine Spende an ein Hilfswerk zu dieser Morgenandacht? Nicht aus dem schlechten Gewissen heraus, privilegiert zu sein, sondern in der gelassenen Gewissheit, von Gott immer wieder reich beschenkt zu werden. Täglich eingeübte Dankbarkeit ist die wirksamste Medizin gegen den Geiz und der beste Antrieb zum Handeln.

Von Felix Reich

30. August

Als Mose seine Hand über das Meer reckte, liess es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind.   2. Mose 14,21

Ich stehe am Strand. Die Wellen geben den glitzernden Sand frei, die schwarz schillernden, mit Muscheln übersäten Felsen, um sie sogleich wieder zu verschlucken. Barfuss im Sand stehen, sich umspülen lassen. Ich spüre, wie ich einsinke. Die Wellen rütteln an mir. Ich halte stand. Den Wind im Gesicht, das Salz auf der Zunge, nichts als die Brandung im Ohr. Manchmal denke ich, Gott wohnt im Meer.

Mir kommt ein Lied der «Einstürzenden Neubauten» in den Sinn: «Und umgekehrt, wenn du bist, wild, und laut und tosend deine Brandung, in deine Wellenberge lausch ich, und aus den höchsten Wellen, aus den Brechern, brechen dann die tausend Stimmen, meine, die von gestern, die ich nicht kannte, die sonst flüstern, und alle anderen auch, und mittendrin der Nazarener; immer wieder die famosen, fünf letzten Worte: Warum hast du mich verlassen? Ich halt dagegen, brüll jede Welle einzeln an: Bleibst du jetzt hier?»

Es gibt Momente, in denen das Meer zurückweicht wie bei Mose. Die Wellen holen Atem und legen den Urgrund des Vertrauens frei jenseits der Worte. In der flüchtigen, unverhofften Euphorie beim Musikhören. Oder in der Getrostheit, gefunden worden zu sein.

Von Felix Reich

29. August

Mach dich auf, Gott, und führe deine Sache. Psalm 74,22

Die Schlacht ist verloren. Die Heiligtümer liegen in Trümmern, der Feind triumphiert und erniedrigt die Besiegten. Der Psalm erzählt von einer Niederlage und der Schmach danach. Ich wünschte, die Bilder, die beim Lesen der Verse in mir aufsteigen, wären mir fremd. Altes Testament eben und deshalb ganz weit weg. Doch ich kenne die Bilder nur allzu gut. Die Bilder von zerbombten Kirchen, brennenden Moscheen, zerschossenen Tempeln, zerstörten Synagogen. Und all die Städte und Dörfer in Trümmern, Menschen auf der Flucht, der Gewalt ausgeliefert. Wie der Psalmist frage ich mich, warum Gott das alles zulässt. Weshalb er seine Hand zurückzieht, statt sie schützend über die Opfer zu halten und die Angreifer zurückzuschlagen.

«Steh auf, Gott, führe deinen Streit.» So übersetzt die Zürcher Bibel die Tageslosung und spitzt sie zu. Ich bete dafür, dass Gott uns die Kraft gibt, aufzustehen gegen das Unrecht und die Gewalt und dabei hilft, den Frieden zu erstreiten. Aber halt: Kann ich überhaupt sicher sein, was Gottes Sache ist? Es ist doch seine Sache. Vielleicht steckt auch diese Warnung im Psalm: dass viele Kirchen und Moscheen brannten und brennen, gerade weil die Menschen meinten, Gottes Plan zu kennen und seinen Streit selbst führen zu müssen. Auch in seiner Ambivalenz ist der Psalm aktueller, als mir lieb ist.

Von Felix Reich

28. August

Paulus schreibt: Betet für uns, auf dass  Gott uns eine Tür für das Wort auftue.     Kolosser 4,3

Was könnte sie sein, die Tür für das Wort?

Ein interessierter Blick, der nicht an der Oberfläche bleibt, sondern mehr möchte. Mehr sehen, durchschauen, ein  Bild zusammensetzen – Farben, Formen. Nicht einfach nur gedankenlos drüberschauen, sondern sich öffnen. Die Augen sind das Tor zu Seele, so sagt man. Eine Tür für das Wort?

Was könnte sie sein, die Tür für das Wort?

Ein offenes Ohr, das die Hintergrundmusik nicht überhört, sondern lauschen kann. Einzelne Töne unterscheidet. Unser Ohr – Hammer, Amboss, Steigbügel –, so fein und aufeinander abgestimmt, dass selbst das Wachsen des Grases ihnen nicht entgeht. Eine Tür für das Wort?

Was könnte sie sein, die Tür für das Wort?

Ein weites Herz, das weiss, dass es nicht aus sich heraus schlägt, sondern mit jeder Kontraktion die frohe Botschaft des Lebens und der Befreiung rotlebendig bis in den entlegensten Winkel des Körpers pumpt. Unablässig, immer wieder. Eine Tür für das Wort?

Was könnte sie sein, die Tür für das Wort? Du und Ich

Wir könnten es sein?

Von Sigrun Welke-Holtmann

27. August

Du, HERR, wollest deine Barmherzigkeit nicht von mir wenden; lass deine Güte und Treue allewege mich behüten.        Psalm 40,12

Nicht die Gottlosen oder die Anderen sind es, sondern die eigenen bösen Taten, die den Beter, die Beterin gegen Ende des 40. Psalms ereilen. «Meine Fehler holen mich ein, ich kann sie nicht mehr überblicken. Zahlreicher als die Haare auf dem Kopf sind sie – mein Herz verzagt.» (BigS)

Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung, sagt der Volksmund. Hier ist Selbsterkenntnis eine Voraussetzung, ein Hauptgrund für das Gebet.

Und so schreien er und sie nicht nach Gerechtigkeit, sondern behaften Gott bei seiner Barmherzigkeit, Güte und Treue – Zuverlässigkeit, so übersetzt es die Bibel in gerechter Sprache, es ist, so finde ich, genau das richtige Wort dafür.

Der Beter sucht Gottes befreiendes Handeln, das die Last, auch die Last der eigenen Sünden, der eigenen Verfehlungen, von den Schultern nehmen kann. Die Beterin sucht etwas, auf das sie sich verlassen kann, auch wenn sie selbst den Überblick verloren hat und sich vielleicht sogar verlassen fühlt. Ein Gegenüber, das nicht nachträgt, sondern mitträgt.

Du, Lebendige, verschliess doch dein Erbarmen nicht  vor mir! Deine Treue, deine Zuverlässigkeit mögen mich allzeit behüten.

Von Sigrun Welke-Holtmann

26. August

Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit  Psalmen,  Lobgesängen  und  geistlichen  Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Kolosser 3,16

Als es nach langen Monaten der Pandemie wieder erlaubt war, im Gottesdienst (mit Maske) zu singen, traten mir beim ersten Lied die Tränen in die Augen. Ich weiss nicht mehr, welches Lied wir gesungen haben, aber ich erinnere mich, dass mich meine Reaktion überraschte: Ich war gleichermassen ergriffen, bewegt, froh und dankbar. Das gemeinsame Singen nach so langer Zeit hatte etwas von Nachhausekommen, das Vertraute, das ich schmerzlich vermisst hatte, war wieder da. Seither singe ich aus vollem Herzen, so gut ich kann, mit oder ohne Tränen in den Augen und freue mich über die tröstende und stärkende Kraft des gemeinsamen Singens, das uns als ganz unterschiedliche Menschen zusammenbringt.

Um die heilsam-heilende Wirkung des gemeinsamen Singens wussten auch die frühen Gemeinden. Ja, es gab auch in Kolossä Streit und Unstimmigkeiten darüber, wie das Leben von Christenmenschen auszusehen hat; was gelten soll und was nicht; wie der «richtige» Weg ist; wie streng oder grosszügig die Weisungen auszulegen sind. Es gab und gibt eben nicht die eine richtige Weise. Aber es gibt Einen, der trotz und in allen Unterschieden Verbindung und Gemeinschaft stiftet: Christus. Darum «lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen» – und singt, singt gemeinsam!

Von Annegret Brauch

25. August

Ich will zu Gott rufen, und der HERR wird mir  helfen. Psalm 55,17

Was für ein Vertrauen kommt in diesem Vers zum Ausdruck! Es wächst in Bedrängnis und Angst; es versiegt nicht, trotz Anfeindung und Verrat der Freunde; es wird stark im Mut und im Wagnis, das Leben der EWIGEN in die Arme zu werfen. Der Psalmbeter, die Psalmbeterin kennt die Schrecken, die Menschen einander zufügen können, kennt die Verzweiflung und das Grauen in Todesangst, das Entsetzen über Lüge und Verrat. Er und sie rufen und klagen, flehen um Rettung, ringen mit sich und mit Gott – und sie halten stand, auf wundersame Weise: «Ich aber will zu Gott rufen, und der HERR wird mir helfen.»

In einer für sie schwierigen und bedrängenden Lebenslage schrieb Hilde Domin diesen Vers in ihr Tagebuch: Ich setzte den Fuss in die Luft, und sie trug.

Da ist es wieder dieses wundersame Vertrauen, das, fragil und doch kräftig, angefochten und doch stark, Menschen in Not und Bedrängnis zuwächst und sie trägt.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen. (Dietrich Bonhoeffer)

Von Annegret Brauch

24. August

Ich wandle in weitem Raum; denn ich suche deine Befehle.              Psalm 119,45

«Ich wandle in weitem Raum; denn ich suche deine Befehle» – anstelle von «Ich wandle fröhlich, denn ich suche deine Befehle»: Beide Formulierungen stammen aus der Lutherbibel; die zweite von 1985, die erste von 2017. Sie suggerieren unterschiedliche Vorstellungen. Fröhlich wandern ist nur einfach schön. In weitem Raum aber kann ich ausschreiten und kann und muss auch etwas wagen. Gefahren können mir begegnen; um ihnen zu begegnen, brauche ich die Stütze von guten, von Gottes Weisungen.

Und nach denen macht sich der Beter, die Beterin auf die Suche. Fast alle 176 Verse dieses längsten Psalms sind eine solche Suche, unterbrochen durch immer wiederkehrende Liebeserklärungen an diese Weisungen, die ein Schutz vor Gefahren, Verfolgung und Bedrängnis und eine Hilfe zum erfüllten Leben sind.

Ganz zum Schluss, im allerletzten Vers, kehrt sich die Sicht um und endet in der eigentlichen Bitte: «Ich irre umher wie ein verlorenes Schaf. Suche mich, die ich zu dir gehöre! Ja, deine Gebote vergesse ich nicht.» Dies scheint mir der Kern dieses langen Gebets: Wir wollen uns finden lassen von Gott. Wie beim Versteckspiel! Wenn wir dazu nicht bereit sind, kommt es nur auf unsere eigene kleine Kraft an, und die versagt so oft in den schwierigen Zeiten unseres Lebens. Wenn wir uns aber von Gott finden lassen, sind wir gerettet und können im weiten Raum getrost ausschreiten.

Von Elisabeth Raiser

23. August

Wo der Geist des Herrn ist, da ist  Freiheit. 2. Korinther 3,17

Ohne lang nachzudenken, habe ich mich für diesen Satz des Paulus für die kurze Boldernmeditation entschieden; es ist der Lehrtext zu der schönen heutigen Losung: «Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.» (2. Mose 20,2) Er ist unser Trauspruch und hat meinen Mann und mich unser langes gemeinsames Leben hindurch begleitet. Dass Gott der Geist ist, macht es mir möglich, ihn anzurufen und ihn sozusagen in mich hereinzulassen. Der Glaube wurde und wird dadurch immer wieder zu einer inneren Beziehung; Gottes Geist ist eine ständige Kraftquelle, die Mut macht und die Freiheit, die er verheisst, immer wieder neu erkennen und leben lässt. Eine Schutzmauer gegen die Angst und ein Zuspruch im Sinn von: Erkenne deine Freiheit und nutze sie!

Der Textzusammenhang in 2. Korinther 3 ist allerdings problematisch: Paulus setzt sich hier vom Buchstaben der «steinernen Tafeln», also des Gesetzes, und von der «verhüllten Herrlichkeit» des ersten Bundes ab. «Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.» (2. Korinther 3,6b). Das glaube ich nicht – ich halte mich lieber an seine Aussage im Römerbrief (11,18): «Rühmst du dich aber (dem Sinn nach: der Freiheit von Israel), so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel dich trägt.» Ein grosser Dank an diese Wurzel!

Von Elisabeth Raiser

22. August

Bist du es nicht, HERR, unser Gott, auf den wir hoffen?          Jeremia 14,22

Über das Land ist eine Dürre hereingebrochen, es ist eine Katastrophe. Unserem Vers geht ein Schuldbekenntnis voraus, als Angebot an Gott. Darauf die Antwort: «Gibt es unter den Nichtsen der Völker solche, die regnen lassen? Oder  ist es der Himmel, der regnen lässt? Bist nicht du es, HERR, unser Gott, und hoffen wir nicht auf dich?» (Jeremia 14,22, Zürcher Bibel) Ja, Gott, wir hoffen auf dich. Und doch sind wir angesichts des grässlichen Krieges in der Ukraine auch dabei zu fragen: «Lässt du, Gott, diesen Krieg zu? Schaffst du nicht ein Ende?» Die Fragen aus dem Text sind so auch unsere Fragen. Und wir wissen keine Antworten, so wie auch im Text keine Antwort zu finden ist. Und doch: «Bist nicht du es, HERR, unser Gott, der regnen lässt?»

Und so fragen wir heute: «Bist nicht du es, Gott, die Lebendige, die Frieden schenkt?» Wir hören nicht auf zu hoffen, wir bleiben dran und hoffen weiter, Tag für Tag, auf Frieden in der Welt. Wir hoffen, dass Gott ihn schenkt, und wir hoffen, dass die Menschen zur Vernunft kommen. Aber Antworten auf die Fragen nach Gottes Handeln oder Hinweise gibt es im Moment keine. Nur etwas gibt es: Die Lebendige lässt uns nicht allein, auch nicht mit unseren Fragen. Also fragen wir weiter und hoffen wir weiter, das ist jetzt genau unsere Aufgabe.

Schenke uns die Kraft, Hoffende zu  bleiben.

Von Madeleine Strub-Jaccoud